20. Oktober 2021

20 Jahre Neue Dresdner Synagoge

Ein Text zum jüdischen Leben in der Landeshauptstadt

Das Jubiläum bietet Anlass, zurückzublicken: Auf die alte Sempersynagoge, deren Zerstörung, auf Hoffnung und Enttäuschung nach dem Krieg sowie den hoffnungsvollen Aufbruch nach 1990. Ein Einblick von Wolfram Nagel.

Ein Bethaus allen Völkern 

Jeden Winter beschneidet Matthias Wagner die Platanen im Innenhof des jüdischen Gemeindezentrums von Dresden, ehrenamtlich seit zwanzig Jahren. Viermal vier Bäume im Quadrat. Sie wären längst in den Himmel gewachsen, sagt der Gärtner im Ruhestand. Schon zu DDR-Zeiten wurde er Mitglied der jüdischen Gemeinde, durfte in den 1980er Jahren sogar einmal nach Israel reisen. Auch heute gehört der Rentner zum festen Beterkreis. Ohne ihn hätten die Platanen auch den Segensspruch über dem Eingang zur Synagoge verdeckt: 

תיב יתיב יכ-לכל ארקי הליפת-םימעה
»Denn mein Haus werde genannt ein Bethaus allen Völkern.«

Dieser Vers des Propheten Jesaja gehörte bereits zur Sempersynagoge. Sie stand 100 Jahre lang hier am Hasenberg. Ihre Umrisse zeichnen sich als Band aus Edelstahl im Hof ab. Vor 20 Jahren standen Besucher Schlange, um sich ein Bild vom jüdischen Leben in Dresden zu machen. Nur wenige hatten je eine Synagoge von innen gesehen. Und so verweilten sie auch im Café Schoschana, bei sephardischem Orangenkuchen, koscherem Wein oder israelischem Bier und ließen sich das Judentum erklären. Fast täglich berichteten regionale und überregionale Medien über das Projekt, von der ersten Idee Mitte der 1990er Jahre, Architekturwettbewerb, Grundsteinlegung, Richtfest bis zur Weihe. Bei der großen Begeisterung für die neue Synagoge fielen antisemitische Spötteleien wie »Judenbunker« als Bezeichnung für den blockförmigen Werksteinbau mit den kleinen Außenfenstern und der lichten Fensterfront im Innenhof kaum ins Gewicht. Die Neue Synagoge sollte ein weltoffenes Haus sein.

 

Neuanfang nach der Shoa und der deutschen Wiedervereinigung

Zur Einweihung der Neuen Synagoge vor 20 Jahren holte ich Henny Brenner aus Weiden in der Oberpfalz mit dem Auto ab. Als Teilnehmerin einer Diskussionsrunde erzählte sie im Rundfunk, wie sie als junge Frau Zwangsarbeit in den Göhlewerken leisten musste, von ihrer Rettung durch den Bombenangriff in der Nacht zum 14. Februar 1945, als sie mit ihren Eltern untertauchen konnte, und von der Flucht nach Westberlin im Winter 1952, weil sie nach dem Slansky-Prozess erneute antisemitische Repressalien fürchteten. 

Die wiedergegründete jüdische Gemeinde von Dresden verlor auch ihren Vorsitzenden Leon Löwenkopf, Überlebender von Auschwitz und Sachsenhausen. Er hatte dafür gesorgt, dass die ehemalige Trauerhalle am Jüdischen Friedhof Fiedlerstraße zur Synagoge umgebaut wurde. Neuanfang! 

Von 1950 bis 2001 feierte die jüdische Gemeinde dort Schabbat und die hohen Feiertage; von den Gräbern durch eine Hecke abgeschirmt, halachisch ein Provisorium. Überstrahlt vom originalen Davidstern der Sempersynagoge, den der Feuerwehrmann Alfred Neumann gerettet hatte. 

 

Der Autor Wolfram Nagel ist seit 2009 Mitglied der Jüdischen Gemeinde zu Dresden. 1955 in Südthüringen geboren hat er Bauingenieurwesen und Literatur studiert. Von 1991 bis 2021 arbeitet er als Autor für öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten. 

 

Gemeindemitglieder wie Helmut Aris, der spätere Vorsitzende des Bundes der jüdischen Gemeinden in der DDR oder der Historiker Helmut Eschwege passten sich an. Sie glaubten an den antifaschistisch-sozialistischen Staat, verstanden die Gemeinde als Überlebensgemeinschaft. Die verkleinerte sich bis zur politischen Wende auf gerade einmal 60 Mitglieder. 

Durch den Zuzug von Jüdinnen und Juden aus der ehemaligen Sowjetunion begann die Gemeinde in den 1990er Jahren wieder zu wachsen. Erstmals seit der NS-Zeit bekam sie mit Salomon-Almekias Siegl wieder einen eigenen Rabbiner. Nicht nur für ihn wurde schnell klar, dass Dresden ein größeres Haus für Gebet und Versammlung brauchte. Die familiär geprägte Gemeinde deutscher Jüdinnen und Juden gab es da schon nicht mehr. Aber es bestand Hoffnung, dass sich die liberal-konservative Tradition bewahren ließe, wie sie nach der Shoa in Ostdeutschland fortbestanden hatte, anders als in den meisten westdeutschen Gemeinden.

Für den damaligen Gemeindevorsitzenden Roman König (gest. 2006) oder den Geschäftsführer Heinz-Joachim Aris (gest. 2017) wurde das Neubauprojekt zur großen Herausforderung. Die jüdische Gemeinde sollte ihren Platz mitten in der Dresdner Stadtgesellschaft wiederbekommen. Und wer sich damals für den Wiederaufbau der im Krieg zerstörten Frauenkirche einsetzte, wie Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, Oberbürgermeister Herbert Wagner, Nobelpreisträger Günter Blobel oder die beiden Ortsbischöfe Volker Kreß und Joachim Reinelt, unterstützte auch dieses Projekt. Andere wie Pfarrer Siegfried Reimann oder der Schauspieler Friedrich-Wilhelm Junge gehörten zum Förderverein und warben eifrig Spenden ein. Wohl noch nie gab es so viele Benefizkonzerte und andere Veranstaltungen, um das nötige Geld für den Neubau eines jüdischen Gotteshauses aufzubringen. 

 

Gottfried Semper und die jüdische Emanzipation

Immer wieder wurde daran erinnert, welchen Anteil Dresdner Juden besonders im 19. Jahrhundert an der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der Stadt hatten. Dafür stand symbolisch die 1840 eingeweihte Sempersynagoge, von der nur ein paar schwarze Steine, der gerettete Davidstern, die originalen Entwurfszeichnungen und ein paar Bilder geblieben sind. 

Die achteckig gedrungene Kuppel überragte einmal die Festungsmauer am ehemaligen Bärenzwinger. Architektonisch maß sie sich mit der Frauenkirche; Ausdruck jüdischer Bürgerlichkeit in der aufstrebenden Residenzstadt. Dr. Zacharias Frankel, von 1836 bis 1854 Oberrabbiner von Dresden, setzte sich damals für den Synagogenbau ein, gewann dafür sogar Prinz Johann, den späteren König von Sachsen. Die zuständige Behörde verhinderte allerdings den Bau am Antonsplatz innerhalb der historischen Altstadt. Der Grundstein wurde dann am 21. Juni 1838 auf Privatland in der Nähe des Zeughauses, dem heutigen Albertinum gelegt – im Beisein von Honoratioren des Landes, der Stadt und der Kirchen.

 

Rekonstruktion der Sempersynagoge oder Neubau 

Wie heute in Hamburg gab es vor 25 Jahren auch in Dresden eine heftige Diskussion über den möglichen Wiederaufbau der Sempersynagoge nach dem Vorbild der Frauenkirche. Nicht wenige Liebhaber des Dresdner Sandsteinbarock forderten eine rekonstruierte Synagoge nach den erhalten gebliebenen Plänen Sempers, wohl nicht so sehr um jüdischen Bürgern ihr historisches Zuhause wieder zu geben, sondern um ein architektonisches Wahrzeichen zurückzugewinnen und möglicherweise, ein schlimmes Kapitel der Stadtgeschichte optisch ungeschehen zu machen. Auch einige jüdische Unterstützer im Ausland ersehnten sich dieses Stück verlorene Heimat zurück, hätten dafür wahrscheinlich lieber Geld gespendet als für den Neubau. Doch die Gemeinde entschied sich gegen einen Wiederaufbau. Anders als die Frauenkirche war die Synagoge eben nicht von Bomben getroffen, sondern von den Fackeln der Nazis in Brand gesteckt worden, begründet die langjährige Gemeindevorsitzende Nora Goldenbogen diesen Beschluss auch heute noch. Es gab nicht einmal Trümmer. Deren Mauern wurde abgetragen und als Füllmasse im Straßenbau verwendet. Ein paar Steine fanden sich später in einer Gartenanlage. 

Als sich das Feuer in der Nacht zum 10. November 1938 durch die Kuppel fraß, mag sich manch einer durch Luthers Hetzschrift »Von den Juden und ihren Lügen« bestätigt gefühlt haben. Darin forderte der Reformator 1543, dass man die Juden vertreiben und ihre Synagogen verbrennen solle. Die nazifreundlichen Deutschen Christen in Dresden hatten schon 1933 begonnen, Juden auszugrenzen. Von der Frauenkirche hingen Hakenkreuzfahnen. 

 

Wettbewerb für die Neue Synagoge am Hasenberg

Auch wegen dieser Schuld engagierten sich Christen der Stadt für den Synagogenbau, wie Annen-Kirch-Pfarrer Reimann oder auch der katholische Priester Michael Ulrich in der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit. Auch sie strebten keine Rekonstruktion an, sondern setzten sich für einen geschwisterlichen Neuanfang der jüdischen Gemeinde im Stadtzentrum ein. 

57 Architekturbüros beteiligten sich 1998 an dem Wettbewerb, darunter auch Daniel Liebeskind, Erbauer des Jüdischen Museums Berlin und später des neuen Militärhistorischen Museums der Bundeswehr in Dresden. Die Jury vergab zwei erste Preise an Livio Vaccini aus Locarno und Heinz Tesar/ Wien. Realisiert aber wurde der Entwurf des dritten Siegers, des Büros der jungen Saarbrücker Architekten Wandel, Hofer und Lorch. 

Der Solitär gehört längst zu den interessantesten Sakralbauten Europas auch wegen seines ungewöhnlichen Materials und der Form. Die Werksteinquader erinnern an die festen Mauern des Herodianischen Tempels in Jerusalem. Deren schichtweise Drehung ermöglichte die Ausrichtung des Thoraschreins nach Osten. Das goldene mit silbernen Davidsternen durchwirkte Netz über dem Gebetsraum symbolisiert das biblische Stiftszelt der Israeliten bei ihrem Zug durch die steinige Wüste.

 

Ist Normalität zurückgekehrt? 

Die Platanen auf dem Platz zwischen Synagoge und Gemeindehaus sind kräftig gewachsen. Kein einziger Stamm ist in den zwanzig Jahren seit der Weihe vertrocknet. Für Gärtner Matthias Wagner Hinweis auf einen fruchtbaren Boden. 

2006 feierten liberale Rabbiner und Rabbinerinnen zusammen mit vielen Gästen erstmals die Ordination von Absolventen des Abraham-Geiger-Kollegs Berlin unter dem Goldenen Vorhang. Jüdische Bürger schienen wieder ganz selbstverständlich zur Mitte der Gesellschaft zu gehören. Die Dresdner Synagoge galt als wegweisendes Beispiel für Weltoffenheit, ja auch für die Jüdisch-Christliche Zusammenarbeit und den interreligiösen Dialog. Der Gemeindesaal gehörte bei Ausstellungen, Diskussionsabenden, in der Jüdischen Woche und anderen öffentlichen Veranstaltungen zu den wichtigen kulturellen Adressen der Stadt. Die Konzerte der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie waren fast immer ausverkauft. 

Inzwischen ist es ruhiger geworden in der Jüdischen Gemeinde. Das Café Schoschana gibt es schon viele Jahre nicht mehr. Spätestens seit dem Anschlag auf die Synagoge in Halle Jom Kippur 2019 schleicht sich Angst in der Gemeinde ein. Die lichte Fensterfront im Innenhof gilt heute für das Landeskriminalamt Sachsens als Sicherheitsrisiko.