26. Januar 2022

Montagsspaziergänge pervertieren die Idee zivilen Ungehorsams

Wolfgang Thierse und Birgit Munz sprechen im Podcast “Mit Herz und Haltung” über die aktuellen Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen

Dresden. Die aktuelle Folge des Podcasts “Mit Herz und Haltung” der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen wirft einen kritischen Blick auf die sogenannten Montagsspaziergänge gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Zu Gast waren Bundestagspräsident a.D. Wolfgang Thierse und die ehemalige Präsidentin des sächsischen Verfassungsgerichts Birgit Munz. Beide sprachen über die missbräuchliche Verwendung des Begriffs “ziviler Ungehorsam” für diese Proteste und die Vereinnahmung der Erinnerung an die Friedliche Revolution in der DDR. Moderiert wurde das Gespräch von Dr. Falk Hamann von der Katholischen Akademie.

 

Kritik an Hass und Gewaltausbrüchen

In Bezug auf die sogenannten Montagsspaziergänge, bei denen sich trotz Verbot in vielen Städten hunderte oder sogar tausende Menschen versammelt hatten, könne nicht von zivilem Ungehorsam gesprochen werden, so Munz. Von den Teilnehmern sie überhaupt nicht versucht worden, die Corona-Schutzmaßnahmen zunächst auf dem rechtsstaatlichen Weg überprüfen zu lassen. Zugleich sei die Gewaltfreiheit ein Wesensmerkmal des zivilen Ungehorsams. Hierin sieht auch Thierse einen zentralen Unterschied zu den Montagsdemonstrationen in der ehemaligen DDR: Gewalt sei dort nur von Seiten der Staatsmacht ausgegangen, nicht von den Demonstranten. Bei den aktuellen Protesten gebe es hingegen einen wahrnehmbaren Hass und Gewaltausbrüche gegen Polizisten. “Es tut schon weh,” so Thierse, “wenn man sieht, welche Verfälschung das ist gegenüber dem, was die Freiheitsrevolution von 1989 ausgemacht hat.”

Montagsspaziergänge entbehrten einer moralischen Legitimation

Beide betonten auch, dass Gemein- oder Fremdnützigkeit zum Wesen zivilen Ungehorsams gehöre. Es gehe eben nicht darum, erklärte Munz, “Individualinteressen durchzusetzen”, sondern darum, “moralische Werte, die man als höherrangig als das Recht betracht,” in das öffentliche Bewusstsein zu bringen. Den Demonstranten gehe es dagegen um sich selbst, so Thierse, z.B. darum, sich nicht impfen zu lassen. Dabei gerieten die Konsequenzen für andere und das Gemeinwohl aus dem Blick. In diesem Zusammenhang zeigte sich Thierse schockiert von einer “Trennung von Freiheit und Verantwortung”, die beide doch existenziell zusammengehörten: “Ich selber kann nur frei sein, wenn ich die Freiheit anderer respektiere und mitbedenke.” In gleicher Weise sieht auch Munz hinter den Montagsspaziergängen keine “gesteigerte moralische Legitimation”.

Demonstrationen seien Misstrauensbekundungen gegen unsere Demokratie

Anders als bei Formen des zivilen Ungehorsams, die sich lediglich gegen einzelne Gesetze oder Normen richteten, erkennt Thierse bei den Montagsspaziergängen eine Ablehnung der demokraitischen Institutionen und des Rechtsstaats insgesamt: “Man bestreitet ja dass es ein Rechtsstaat sein, man behauptet, wir leben in einer Diktatur, es gebe keine Freiheit, die Presse sei eine Lügenpresse,” so der ehemalige Bundestagspräsident. Aus ebendiesem Grund kritisierte er auch die Inanspruchnahme des Begriffs des Widerstands und den Vergleich mit dem nationalsozialistischen Regime oder der DDR: Das sei „eine Perversion”, man könne es nicht anders beschreiben, so Thierse. Munz wies zudem darauf hin, dass durch die Montagsspaziergänge der Rechtsstaat gezielt vorgeführt werden solle, indem die Teilnehmenden zu zeigen versuchen, dass dieser nicht in der Lage sei, seine eigenen Regel durchzusetzen. Es handele sich hier nicht um zivilen Ungehorsam, sondern um einen “Regelverstoß, die zu Destabilisierung dienen soll”.

Aufruf zu zivilgesellschaftlicher Reaktion und Solidarität

Als Reaktion auf die Montagsspaziergänge mahnte Thierse eine wehrhaften Rechtsstaats an, der gegen Verstöße konsequent vorgehen müsse. Zugleich seien Aufklärung zum Thema Corona weiter notwendig, um – soweit dies möglich sei – Ängste zu verringern. Munz hobt die Verpflichtung der Zivilgesellschaft hervor: Die sogenannte schweigende Mehrheit solle auch öffentlich und sichtbar für Verantwortung und Solidarität in der Pandemie einstehen. Beide unterstützten den Aufruf der Initiative “Bautzen gemeinsam”, die für Freitag, den 28. Januar 2022 zu einem stillen Lichterzug für Solidarität in der Corona-Pandemie aufruft: “Mit zu laufen wäre die gute Tradition, die an den Herbst von 1989 anknüpft”, so Thierse. “Wir sind damals mit Kerzen auf die Straße gegangen, wir haben gerufen: ‘Keine Gewalt!’”

Die gesamte Podcast-Folge können Sie hier hören: https://lebendig-akademisch.podigee.io/161-spazieren-als-ziviler-ungehorsam

Der Podcast „Mit Herz und Haltung“

Im Podcast „Mit Herz und Haltung“ der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen nehmen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Expertinnen und Experten verschiedener Fachdisziplinen Stellung zu den wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Fragestellungen. Neue Folgen erscheinen in regelmäßigen Abständen auf Spotify, Deezer, Apple Podcasts, YouTube sowie auf den Websites der Akademie (www.lebendig-akademisch.de) und des Bistums (www.bistum-dresden-meissen.de).