21. Oktober 2021

Träume, Traumwelten, Traumata

Ein kleiner Parforceritt durch die Geschichte des Träumens

Ein Text von Karin Wollschläger.

Wir tun es jede Nacht, wir tun es manchmal auch am Tage: Träumen. In unseren Träumen ist alles möglich. Was in ihnen passiert, unterliegt keinen Naturgesetzen. Doch nur selten lassen sie sich steuern. Und von all den unzähligen Träumen, die wir im Laufe unseres Lebens im Schlaf träumen, erinnern wir uns nur an einen Bruchteil. Träume sind meist etwas sehr Flüchtiges. Doch sie faszinieren und beschäftigen die Menschheit seit Jahrtausenden. Der Traum gehört zu den anthropologischen Konstanten des Menschen. 

Aber warum träumen wir überhaupt? Wo kommen die Träume her? In welchem Bezug stehen die Traumwelten zu unserer Realität? Wie lassen sie sich deuten? Diese Fragen beschäftigen den Einzelnen ebenso wie eine Reihe wissenschaftlicher Disziplinen: Psychologen, Neurologen, aber inzwischen auch Kulturwissenschaftler haben Träume zu ihrem Forschungsgegenstand gemacht. Traum-Motive und -Sequenzen begegnen uns auch immer wieder in Literatur, Malerei, bildender Kunst, Musik und Filmen. Träume können Motor wie Gegenstand künstlerischer Kreativität sein.

Schon um 2000 v. Chr. errichteten die Ägypter Kultstätten für Traumorakel. Im alten Griechenland übernahm man die besondere Wertschätzung des Traums. Ihm wird im Altertum häufig eine göttliche Herkunft zugeschrieben. Der Traum bringt göttliche Botschaften, Aufträge oder Ratschläge und wird prophetisch verstanden. So hat etwa nach dem islamischen Glauben Mohammed seine Berufung als Prophet in einem Traum empfangen. Das Träumen hat eine visionäre Kraft, seine Deutung enthält in dieser Sichtweise Wahrheit.

Auch die Bibel ist voll von Träumen. Und die biblischen Traumgeschichten sind alles andere als Nebensächlichkeiten. Ein auch die Malerei immer wieder inspirierender Traum ist Jakobs Traum von der Himmelleiter im 1. Buch Mose: Eine Leiter ragt von der Erde in den Himmel, Engel klettern rauf und runter, und ganz oben steht Gott und verheißt nicht nur unzählige Nachkommen, sondern auch absolute Treue: »Ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.« Und der Traum geht in Erfüllung: Jakob wird zu einem der biblischen Stammväter. 

Die ganze Reihe 'ausgeträumt?' im Überblick

Auch Traumdeuter genießen einen hohen Status in der Bibel. Der vielleicht prominenteste: Josef, der die Träume des Pharaos zu deuten vermag. Dieser träumte: Aus dem Nil steigen erst sieben fette, dann sieben magere Kühe, dann wachsen sieben Ähren auf einem Halm und daneben stehen sieben versengte Ähren. Der Pharao ist ratlos, seine Wahrsager am Hofe ebenso. Ausgerechnet der inhaftierte Hebräer Josef kann helfen, mit einer dann doch recht naheliegenden Deutung: Erst wird Ägypten sieben ertragreiche Jahre erleben, dann sieben Jahre des Hungers. Der Pharao reagiert ebenso begeistert wie pragmatisch und erhebt Josef zum königlichen Landwirtschaftsminister. Ein Job, den er ebenso souverän managt wie das Traumdeuten und so Ägypten vor den Hungersnöten bewahrt, die der Traum – ganz an die Realität gekoppelt – ankündigte.

Wenn man es so deuten will, verdankt auch das Christentum selbst einem Traum seinen Aufstieg: Im Jahr 312 vor der Entscheidungsschlacht um die Herrschaft im Römischen Reich soll eine Stimme Kaiser Konstantin im Traum gesagt haben: »In diesem Zeichen wirst du siegen« – und ihm erschien ein Kreuz. Selbiges malten seine Soldaten auf ihre Schilde und siegten. So wurde der Erzählung nach Konstantin zum Teil von Gottes Plan. Faktisch leitete seine Hinwendung zum Christentum – ob sie aufgrund des persönlichen Bekehrungserlebnisses oder aus realpolitischen Motiven geschah, ist umstritten – die konstantinische Wende ein, in deren Folge zunächst durch das Konzil von Nizäa (325) die Christenverfolgung endete und schließlich im Jahre 393 das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde.

Bevor wir weiter in die Kulturgeschichte des Traums und der Traumdeutung einsteigen, machen wir zunächst einen Sprung in die Neurowissenschaft: Etwa ein Drittel seines Lebens verschläft der Mensch. Schlaf braucht unser Körper zur Erholung, zur Regeneration. Und müde werden wir, wenn unser Gehirn Melatonin ausschüttet. Das Hormon ist für den Tag-Nacht-Rhythmus des Körpers zuständig. Das individuelle Schlafbedürfnis hängt dabei maßgeblich von den Erbanlagen ab. Es gibt Menschen, die mit fünf Stunden Schlaf auskommen, während andere zehn benötigen, um sich gut erholt zu fühlen. Doch wie kommt es zum Träumen im Schlaf und was hat es für eine Funktion?

Die Chicagoer Schlafforscher Eugene Aserinsky und Nathaniel Kleitmann entdeckten 1953 den sogenannten REM-Schlaf. Sie hatten die Augenbewegungen von schlafenden Kindern beobachtet, in der Annahme, einen Indikator für baldiges Aufwachen zu finden. Doch sie stellten fest: Ihre kleinen Probanden machten während des Nachtschlafs gleich mehrere 10 bis 50-minütige Perioden durch, in denen sich ihr Augen schnell bewegten – und in denen sie tief und fest schliefen. Die Forscher tauften das Phänomen Rapid Eye Movement Sleep (REM-Schlaf) und so kam der Traumschlaf zu seinem wissenschaftlichen Namen. Ein weiteres Ergebnis der Studie: Wenn man einen Menschen in diesen Phasen aus dem Schlaf reißt, weiß er meist von äußerst lebhaften Träumen zu berichten.

 

»Traumdeuter genießen einen hohen Status in der Bibel. Der vielleicht prominenteste: Josef, der die Träume des Pharaos zu deuten vermag«

 

Wie spätere Studien zeigten, träumen Menschen nicht ausschließlich in den REM-Phasen. Und bei allem sind eine ganze Reihe von Botenstoffen in dem Traumschlaf involviert. Manche erregen die Nervenzellen, um REM-Phasen anzukurbeln, andere hemmen sie, um den Traumschlaf wieder zu beenden. Im Laufe der Nacht durchläuft der Körper immer wieder nacheinander drei Phasen: Leichtschlaf – Tiefschlaf – Traumschlaf. Der REM-Schlaf tritt dabei in vier bis fünf Phasen in der Nacht auf und machte ungefähr zwanzig Prozent des Gesamtschlafes bei einem Erwachsenen aus. Während der Körper entspannt, arbeitet das Gehirn unterdessen auf Hochtouren. So wird im Tiefschlaf beispielsweise Erlerntes gespeichert und gefestigt. EEG-Messungen der Hirnströme zeigen, dass während der Traumphasen das Gehirn sogar genauso viel Energie verbraucht wie im Wachzustand. 

Ob das Träumen eine eigene Funktion hat, sei schwierig zu beantworten, sagt Michael Schredl, einer der führenden Schlafforscher und Leiter des Schlaflabors am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. »Denn damit ich weiß, was jemand geträumt hat, muss er mir den Traum erzählen. Dabei kann es sein, dass er über den Traum nachdenkt und deshalb im Wachzustand eine bessere Idee hat oder besser mit einer Situation zurechtkommt. Ich weiß dann nicht, ob der Effekt von dem Traum selbst herrührt oder vom Erzählen und Nachdenken über den Traum.«

Trotzdem gebe es diverse Hypothesen zur Funktion des Träumens, so Schredl in einem Interview. Evolutionsbiologische Theorien etwa versuchten, im Träumen eine Überlebensstrategie zu sehen: »Im Traum kann der Mensch Angst üben und so auch in einer realen Situation angemessen reagieren. Wenn man Angst hat und schnell weglaufen kann, hat man eine höhere Überlebenschance.« Viele Psychologen wiederum vermuteten, dass Träume beim Problemlösen helfen: »Im Traum werden alte Informationen mit neuen gemischt, sodass es zu kreativen Lösungen kommen kann.« 

Andere Forscher, so Schredl, nähmen an, dass Träume einfach »Abfallprodukte« der nächtlichen Hirntätigkeit seien. »Es ist gut belegt, dass während des Schlafes Gedächtniskonsolidierung stattfindet. Dinge, die tagsüber gelernt werden, werden im Schlaf weiterverarbeitet und abgespeichert. Ob das Träumen dabei eine Rolle spielt, ist ungeklärt. Und diese Prozesse laufen ab, egal, ob man sich morgens an Träume erinnert oder nicht.«

Für manche Menschen freilich sind die Erinnerungen an ihre Träume auch quälend. Denn zahlreiche psychische Schwierigkeiten und Erkrankungen spiegeln sich im Traumprofil wider, wie Forschungen zeigen. Besonders belastend sind Träume vor allem bei Patienten mit posttraumatischen Belastungsstörungen. Darunter leiden oft Opfer von Verkehrsunfällen, Vergewaltigungen oder Überfällen, aber auch Zeugen solcher Ereignisse und Helfer. Etwa 20 Prozent der direkt an traumatischen Erlebnissen Beteiligten könnten daran erkranken, schätzen Experten. Viele von ihnen haben regelrecht Angst vorm Schlafen, weil sie sich davor fürchten, das Ereignis nochmals zu erleben. Eine Behandlung in solchen Fällen ist durch eine analytische Verhaltenstherapie möglich.

 

»Im Traum werden alte Informationen mit neuen gemischt, sodass es zu kreativen Lösungen kommen kann«

 

Einen ganz anderen Zugang zur Traumforschung, nämlich einen kulturwissenschaftlichen, hat das Graduiertenkolleg »Europäische Traumkulturen« an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Im Fokus der Forschung dort stehen ästhetische Traumdarstellungen sowie die Literatur-, Medien- und Kulturgeschichte des Traums in den europäischen Kulturen der Nach-Antike. Die bisherigen Forschungen dazu zeigen: Es gibt offensichtlich keine spezifisch nationale Traumkultur – Franzosen träumen im Prinzip nicht anders als Deutsche. Aber es lassen sich historische Unterschiede ausmachen.

So kommen in der antiken Vorstellungswelt – wie bereits zu Anfang angesprochen – Träume von außen zu den Menschen. Der Traum als göttliche Botschaft, als Weisung, Mahnung oder Warnung – mal klar, mal nur durch Seher zu deuten. Die umgekehrte Variante, Träume verstanden als innerliches Geschehen, taucht zwar auch schon bei Aristoteles auf, doch dominant wird diese Auffassung erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert. Träume gelten nun als das Gegenteil von Wissenschaftlichkeit und Vernunft, als sinnleere, kuriose oder auch pathologische Körpererscheinung, als Illusion oder Verstandestäuschung. 

Bildmächtiges Beispiel dafür ist die berühmte Radierung von Francisco de Goya »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«, entstanden um 1797 und eines den bedeutendsten grafischen Werken der Kunstgeschichte. Es zeigt den Künstler im Schlaf, hingestreckt auf einem kubischen Tisch. Darauf liegen Zeichengerät und Papierbögen. Im Hintergrund sind unheimliche, fliegende, teils eulenartige Nachttiere und ein luchsartiges Wesen zu sehen. 

In der Epoche der Romantik wandelt sich das Traumverständnis erneut: Das Bewusstsein wird neuer Leitbegriff und hinzukommen erste psychologische Theorien: Man glaubt, manche Träume entstehen in einem höheren oder tieferen Seelenteil, dem »Gefühlsgrund« – und es zeigen sich in den künstlerischen Darstellungen die Debatten um ihre Bedeutung.

Ein Beispiel hierfür ist Novalis‘ Romanfragment »Heinrich von Ofterdingen« (1803), in dem er drei Träume erzählt. Berühmt daraus ist vor allem jener zum Auftakt: Der Protagonist Heinrich träumt in der Johannisnacht, der Nacht der Sommersonnenwende, in der dem Volksglauben nach ein Blick in die Zukunft möglich ist. Er sieht die »blaue Blume«, ein Symbol der Sehnsucht und des Erkennens. Die Blume verwandelt sich zu einem Mädchengesicht, das, wie sich in den folgenden Kapiteln herausstellt, Mathilde ist, seine spätere Geliebte und Ehefrau. Der Traum stellt gleichsam eine Art Initiation in die Poesie dar. 

Als Heinrich seinen Eltern davon erzählt und meint, es sei »mehr als ein Traum« gewesen, antwortet der Vater: »Träume sind Schäume, mögen auch die hochgelahrten Herren davon denken, was sie wollen, und du tust wohl, wenn du dein Gemüt von dergleichen unnützen und schädlichen Betrachtungen abwendest. Die Zeiten sind nicht mehr, wo zu den Träumen göttliche Gesichte sich gesellten, und wir können und werden es nicht begreifen, wie es jenen auserwählten Männern, von denen die Bibel erzählt, zu Mute gewesen ist. Damals muss es eine andere Beschaffenheit mit den Träumen gehabt haben, so wie mit den menschlichen Dingen. In dem Alter der Welt, wo wir leben, findet der unmittelbare Verkehr mit dem Himmel nicht mehr statt.« 

Den epochalen Wendepunkt in der Auffassung von der Bedeutung des Traums für die Psyche markiert schließlich Sigmund Freuds 1900 erschienene »Traumdeutung«. Er nennt den Traum darin die »Via Regia«, den Königsweg zum Unbewussten. In späteren Schriften spitzt Freud es dann noch mehr zu und bezeichnet den Traum als »halluzinatorische Wunscherfüllung«, als den Ausdruck eines unterbewussten Begehrens, was bei Freud meist eine sexuelle Komponente hat. Auch wenn Freuds Theorien längst nicht unumstritten sind, so besteht seine Leistung wohl doch darin, die Träume den Wissenschaften anthropologisch sinnhaft erschlossen zu haben. Die Freud'sche Traumtheorie markiert zwar nicht die einzige, aber die bekannteste Nahtstelle zwischen kulturwissenschaftlicher und empirischer Traumforschung.

Dazu trug nicht zuletzt auch Carl Gustav Jung bei, der aber anders als Freud die Annahme eines kollektiv Unbewussten vertrat, die Vorstellung, dass nicht alles im Traum ins Rationale aufzulösen ist.  Unbestritten hat die psychoanalytische Traumdeutung im 20. Jahrhundert einen maßgeblichen Einfluss auf das Verständnis von Träumen und die Auseinandersetzung damit gehabt, der bis heute nachwirkt – in Wissenschaft, Kunst und Kultur.