01. September 2021

Das Spiel mit Europa

Gastbeitrag: Armin Laschets Perspektive zu Franziskus' Vision von Europa

Als der Argentinier Jorge Mario Bergoglio vor acht Jahren als erster Nichteuropäer seit über einem Jahrtausend zum Papst gewählt wurde, hegten nicht wenige auf dem alten Kontinent Bedenken, ob sich dieser Papst »vom anderen Ende der Welt« im gleichen Maße wie seine Vorgänger – allen voran der große Johannes Paul II. mit seinen Verdiensten um die Freiheitsbewegungen in den Staaten Osteuropas und den Fall des Eisernen Vorhangs – der Sorgen Europas annehmen würde. Auch in seiner theologischen Prägung deutete wenig auf ein politisches Pontifikat hin.

Heute wissen wir: Papst Franziskus ist nicht nur ein ausgesprochen politischer, sondern auch ein um Europa besorgter Papst. Noch bevor er in einen einzigen Mitgliedstaat der Europäischen Union reiste, besuchte er im November 2014 die europäischen Institutionen in Straßburg und sprach vor dem Europäischen Parlament. Die mit dem Besuch verbundene Botschaft, die Franziskus drei Jahre später zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge gegenüber den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union in der Sixtinischen Kapelle bekräftigte, lautete: Europa als Ganzes ist weitaus mehr als die einfache Summe seiner Teile. Hier wie in seinen weiteren Reden, Schriften und Interviews begegnet uns der Pontifex als Kenner, Freund, Botschafter und – vielleicht gerade deshalb auch – als mahnender Begleiter des europäischen Integrationsprozesses. Deshalb wurde er mit dem höchsten europäischen Preis, dem Internationalen Karlspreis zu Aachen, ausgezeichnet. Und er nahm den Preis an.

Vier Aspekte ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Denken. Und ohne diese vier Aspekte ist europäische Politik im 21. Jahrhundert und ist Europa tatsächlich nicht vorstellbar. Umso mehr lohnt es, diese Aspekte näher zu betrachten und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Gerade weil Europa neue Impulse braucht, um es für die Zukunft gut aufzustellen, und weil ein starkes Europa im Interesse Deutschland ist.

Europa als Friedensprojekt

Zukunft braucht Vergangenheit. Auf kaum eine andere internationale Organisation lässt sich diese Erkenntnis besser anwenden als auf die Europäische Union, diesen Glücksfall der Geschichte. Denn Frieden und Freiheit, Menschenwürde und Wohlstand, die radikale Antithese zu den, den Kontinent über Jahrhunderte prägenden Erfahrungen von Krieg und Unterdrückung, Barbarei und Vernichtung, wurde zur neuen Identität und Realität Europas. Freiwillige Selbstbindung bedeutete gerade nicht Gebundenheit, weil aus dem scheinbaren Verzicht auf Souveränität in Wirklichkeit ein Gewinn an Souveränität entstand. Nicht zuletzt deshalb entwickelte die europäische Idee weit über die Grenzen des verfassten Europa hinaus über Jahrzehnte hinweg eine enorme Strahlkraft in alle Welt. Darauf hat Franziskus in der Enzyklika »Fratelli tutti« erst jüngst noch einmal hingewiesen. Ungeachtet dessen reicht der Blick zu unseren östlich und südlich gelegenen Nachbarn und auf manch nationalen Alleingang während der Corona-Pandemie, um zu erkennen, wie brüchig die Solidarität innerhalb Europas bis heute – oder heute erneut – an manchen Stellen ist.

Europa als Ort des Dialogs

Gerade deshalb muss ganz Europa wieder »ein Ort des Dialogs sein«, wie Papst Franziskus es in einer weiteren europapolitischen Ansprache im Oktober 2017 formulierte. Ein Ort, der für die Vielgestaltigkeit des Kontinents steht: für die Nationen und Regionen, die Vielfalt der Sprachen und Konfessionen, die Erfahrungen von Völkern, sozialen Gruppen und Individuen. So gesehen ist das europäische Projekt stets aufs Neue ein Lern-, Verständigungs- und Verhandlungsprozess. Niemals verhandelbar ist jedoch der Kern seiner Identität: Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Europa als Raum der Solidarität

Als Gemeinschaft des Rechts wurde das verfasste Europa 1952 gegründet, eine Gemeinschaft, die sich zugleich als Solidargemeinschaft verstand und in vielen Krisen bewährt hat. Solidarität, so Franziskus, war und muss das »erste Element europäischer Lebenskraft« sein. Aber ist sie es noch? Wäre sie es, hätte der Pontifex dann bereits 2013 in Lampedusa mit scharfen Worten von einer »Globalisierung der Gleichgültigkeit« gesprochen? Hätte er in seiner Rede zur Verleihung des Karlspreises im Mai 2016 einen »neuen europäischen Humanismus« eingefordert? Die Antwort lautet: Nein. Und so sind auch die Appelle des Papstes, seine tiefe Sorge um den Geist der Humanität, dem Taten folgen müssen, ein Aufruf an ganz Europa, sich gerade in schwierigen Zeiten an die Anfänge und an die wahre Stärke eines vereinten Europa zu erinnern und in diesem Geiste konsequent zu handeln. Nächstenliebe und Mitmenschlichkeit stehen diesem Europa gut zu Gesicht. Und für Christen ist es eine Pflicht, beides zu leben, nach innen und nach außen.

Europa als Idee neu beleben

Auch, aber nicht allein deshalb richtet sich der Appell des Papstes, das »Bollwerk des Friedens« zu stärken, sich auf die »Fähigkeit zur Integration« und »die Fähigkeit zum Dialog« zu besinnen und ein »menschenfreundliches Europa« zu erhalten, an alle Europäerinnen und Europäer. Dem etwas »müden, aber immer noch an Energien und Kapazitäten reichen Europa« neuen Schwung zu verleihen, liegt in der Tat in unserem eigenen Interesse. Natürlich: Krisen sind Herausforderungen. Krisen eröffnen aber auch Möglichkeiten. Inmitten eines tiefgreifenden Epochenwechsels läutet die Pandemie, die Europa und die Welt so fest in den Griff genommen hat, einen Umbruch ein. Ein »Weiter so« der europäischen Politik kann es nicht geben. Doch darin liegt auch eine große Chance: die Chance für einen neuen Aufbruch für Europa zur Bewahrung der Schöpfung im Bereich des Klimaschutzes; in der Vereinbarkeit von Wettbewerbsfähigkeit und Nachhaltigkeit; in der Migrationspolitik; in der Außen- und Sicherheitspolitik.

Das Spiel mit Europa: Zum zweiten Gastbeitrag von Olaf Scholz

Nationale Alleingänge und Grenzschließungen führen innerhalb eines vereinten Europa in die Sackgasse. Grenzen dürfen für uns Europäer des 21. Jahrhunderts nicht mehr als Wunden der Vergangenheit sein, haben – oder hatten? – wir sie doch längst in die Geschichtsbücher verbannt. Dasselbe gilt für nationale Egoismen, die im Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union hoffentlich einen allerletzten großen Höhepunkt erlebt haben. In Europa sind wir darauf angewiesen, gemeinsam vorzusorgen und gemeinsam zu handeln. Die Herausforderungen sind enorm. Daran erinnert uns Papst Franziskus mit seiner Vision von Europa im 21. Jahrhundert. Er hat Recht: Wir brauchen »konkrete Tatsachen«, die, so der große Europäer Robert Schuman, »eine Solidarität der Tat schaffen«. Nur dann, wenn uns diese Solidarität der Tat gelingt, wird Europa eine Zukunft haben. Dafür lohnt sich – allemal für uns Deutsche, die wir wie kein anderer von Europa profitieren – jede Anstrengung.

 

Die Veranstaltung zum Thema: Solidarität unter Spannung? Europas Originalität im 21. Jahrhundert