31. August 2021

Das Spiel mit Europa

Gastbeitrag: Olaf Scholz Perspektive zu Franziskus' Vision von Europa

Die Einheit Europas ist eine enorme Errungenschaft und gleichzeitig unsere gemeinsame Chance auf eine bessere Zukunft im 21. Jahrhundert. Die Europäische Union gründet sich auf den Kerngedanken der Solidarität. Miteinander sind wir stärker als alleine.

Diese Solidarität muss sich in den Herausforderungen, die vor uns liegen, bewähren. Die Corona-Krise hat gezeigt: Es ist möglich, dass wir Europäerinnen und Europäer in der Not füreinander einstehen. Wie ernst es mir ist mit der europäischen Solidarität, das zeigte sich zu Beginn der Pandemie: Schnell und kraftvoll haben wir den größten Wiederaufbaufonds der Geschichte der Europäischen Union auf den Weg gebracht! Für diese Solidarleistung, welche soziale Folgen der Corona-Krise abmildert und Innovationen fördert, bekommt die EU weltweit Anerkennung.

Im Oktober 2020, als die Pandemie in Deutschland erneut Fahrt aufnahm, mahnte Papst Franziskus Europa in einem Brief eindringlich, einen Weg der Geschwisterlichkeit zu gehen. Er warb dafür, dass Solidarität handlungsleitend sein soll bei den Weichenstellungen für das nächste Jahrzehnt. In der Tat: Zu Beginn der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts stehen wir in Deutschland und Europa vor großen Herausforderungen. Die Entscheidungen, die wir heute treffen, werden wegweisend sein. Gelingt es uns, den Respekt und Zusammenhalt in Europa zu wahren und zu stärken? Ich wünsche mir, dass wir aus der gegenwärtigen Krise geeinter und stärker hervorgehen, als wir es vorher waren. Um das zu erreichen, braucht es ein Europa des Respekts.

Wer heute auf die Europäische Union blickt, der sieht ein Friedensprojekt unter Druck. Der Austritt Großbritanniens und die wachsende Zustimmung für Rechtspopulisten stellen Demokratinnen und Demokraten vor die Frage: Kümmern wir uns um die richtigen Themen? Wie erklärt sich der gefühlte große Graben zwischen den Menschen in den Regionen und der Politik in Brüssel?

Einige glauben, dass die demokratischen – oft sind es die sozialdemokratischen – Kräfte in Europa zu viel Augenmerk auf identitätspolitische Themen setzen. Darüber, so der Vorwurf, verlören sie den Kampf für soziale Gerechtigkeit aus dem Blick. Bürgerinnen und Bürger würden sich daraufhin enttäuscht abwenden. Ich glaube, dieser behauptete Gegensatz von Gerechtigkeitsfragen und dem Kampf für die Rechte von Minderheiten oder marginalisierten Gruppen ist falsch. Unsere Gesellschaft ist vielfältig, das gilt für Deutschland und für Europa. Die Antwort auf diese Vielfalt ist nicht, Gruppen gegeneinander auszuspielen. Vielmehr gilt es, den fundamentalen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel so zu gestalten, dass das Miteinander in unserem Land und in Europa gestärkt wird.

Deshalb kämpfe ich für ein Europa des Respekts. Das bedeutet, dass wir in Europa wirtschaftlich solidarisch und erfolgreich sind, dass wir die Zukunft verantwortliche gestalten und uns auf unsere Grundwerte besinnen.

Die Grundlage des Wohlstands in Europa ist der europäische Binnenmarkt. Dieser Binnenmarkt wird nur stabil sein und bleiben, wenn alle Mitgliedstaaten von ihm profitieren. Deshalb müssen die Länder gestärkt werden, die von der Pandemie besonders stark getroffen sind, denn eine wirtschaftliche Spaltung würde auf Dauer den politischen Zusammenhalt in Europa bedrohen. Die historischen Entscheidungen zu dem größten Wiederaufbauprogramm in der Geschichte der Europäischen Union hätte es ohne die SPD nicht gegeben. Das war nichts weniger als ein Paradigmenwechsel deutscher Europapolitik. Wirtschaftliche Solidarität sichert dabei nicht nur unseren eigenen Wohlstand, es geht auch hier um Respekt: Niemand soll auf andere herabschauen, weil man sich für stärker, reicher oder kulturell fortgeschrittener hält.

Ich kämpfe dafür, dass alle Europäer und Europäerinnen Respekt erhalten. Dazu gehört die Anerkennung des Beitrags, den sie für die Gesellschaft leisten, auch finanziell. Es geht darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen aller in Europa zu verbessern. Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen in Europa von ihrer Arbeit gut leben können. Es braucht europäische Mindestlöhne. Außerdem ist durch die Corona-Krise erneut die Bedeutung eines funktionierenden Sozialstaats deutlich geworden, der allen zugutekommt und dessen Kosten solidarisch zu tragen sind. Ich akzeptiere nicht, dass sich einige Unternehmen ihrer Steuerpflicht entziehen. Deshalb habe ich jahrelang für eine globale Mindeststeuer gekämpft, die wir in diesem Sommer mit den anderen G7-Staaten durchsetzen konnten.

Ein Europa des Respekts geht verantwortungsvoll mit Zukunftsfragen um! Europa soll Vorreiter beim Klimaschutz sein. Das bedeutet auch, dass in Städte und Regionen investiert wird, die vormals Wohlstand durch Kohle und Stahl erwirtschafteten. Eine CO2-Grenzabgabe und Einnahmen aus dem Emissionshandel leisten einen Beitrag zum Klimaschutz und zur stabilen Finanzierung der EU.

Das Spiel mit Europa: Zum zweiten Gastbeitrag von Armin Laschet

Auch die Sicherung von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in Europa ist eine Zukunftsfrage. Die EU soll zur modernsten Demokratie der Welt werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass nationalistischer Hass Europa spaltet. Das wirksamste Mittel gegen Spaltung ist Begegnung. Die EU hat uns unseren Nachbarn nähergebracht: Gerade junge Menschen reisen, arbeiten, studieren oder leben selbstverständlich europäisch. Gleichzeitig braucht es Orte der Begegnung, an denen die eigene Filterblase durchbrochen wird. Nicht zuletzt Kirchengemeinden haben hier eine wichtige Funktion. Aber es geht auch um strukturelle Förderung. Ich trete für einen Sonderfonds für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ein, mit dem der zivilgesellschaftlichen Zusammenarbeit gezielt gefördert wird. Um Fake News entgegenzutreten, gilt es, europäische Frühwarnsysteme gegen Des-informationskampagnen auszubauen.

Für mich persönlich gehören Solidarität, die universelle Geltung der Menschenrechte und Frieden zum Grundverständnis meines politischen Handelns. Diese Überzungen sind mir Auftrag. Ich erinnere mich noch gut an die Bilder der ersten Reise von Papst Franziskus im Jahr 2013, als dieser in Lampedusa am Ufer stand und Solidarität mit den Schwächsten anmahnte. Nur miteinander werden wir eine humanitäre und solidarische Flüchtlingspolitik gewährleisten. Es braucht endlich ein funktionsfähiges Europäisches Asylsystem. Dazu müssen Verantwortung und Solidarität im Gleichgewicht sein. Dies ist nur mit einer Reform des Dublin-Systems hin zu einem solidarischen Verteilungsmechanismus möglich. Will Europa glaubwürdig sein und bleiben, dann ist klar: Pushbacks sind eine eklatante Verletzung des Völkerrechts. Seenotrettung ist eine Verpflichtung aus dem internationalen Seerecht und darf nicht kriminalisiert werden, sondern sollte auch staatlich durch die EU gewährleistet werden. Auch das ist eine Frage des Respekts.

Die Herausforderungen der Zukunft kann Europa nur gemeinsam bewältigen. Papst Franziskus schrieb im letzten Jahr an Europa: „Du, die du im Laufe der Jahrhunderte Ideale geschmiedet hast und nun deinen Schwung zu verlieren scheinst, halte dich nicht damit auf, deine Vergangenheit wie ein Erinnerungsalbum zu betrachten. (…) Europa, finde zu dir selbst! Entdecke deine Ideale wieder, die tiefe Wurzeln haben. Sei du selbst!“ Ein Europa des Respekts ist die moderne Umsetzung der großen europäischen Ideale. Ich bin überzeugt: Unsere Zukunft kann eine gute sein. Es liegt an uns!

Die Veranstaltung zum Thema: Solidarität unter Spannung? Europas Originalität im 21. Jahrhundert