24. Dezember 2020

Im Schweigen neu sprechen lernen

Weihnachten im Jahr 2020

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde der Akademie,

was macht den Menschen zum Menschen? Sicher ist es die Fähigkeit, zum eigenen Handeln auf Abstand zu gehen, es zu reflektieren und zu beurteilen, ob es gut oder schlecht war. Was aber, wenn der Mensch nicht nur theoretisch weiß, sondern im Tiefsten verstanden hat, dass er ein verletzliches Wesen ist, das einen Beginn und ein Ende hat? Unverschuldet und unaufhaltsam zugleich. Jedem Prozess des Werdens wohnt bereits das Vergehen inne. In der Freude über das Geschaffene scheint zugleich der Schmerz über das Vergehende auf.

Eine Pandemie führt uns als Gesellschaft genau dies vor Augen. Aber sie ist zu nichts gut. Dieses ‚malum physicum‘, das natürliche Übel, hat kein Wozu und kein Damit. Dieses Übel hat keinen Mehrwert und keinen Sinn. Genau das ist sein Charakteristikum.

Aber diese Erfahrung zwingt zum Perspektivwechsel. Angesichts einer derart gravierenden Seuche mit so großen Verlusterfahrungen, wie wir sie im Moment erleben, kann ich nicht allein von glänzenden Lichtern und freudigen Kinderaugen schreiben. Der Blick in den Stall offenbart stattdessen eine werdende Mutter in total unsicheren Zeiten. Kaum ein anderes Bild wie das 2018 von dem in Leipzig lebenden Michael Triegel ist dafür passender: Das frischgeborene Jesuskind hängt am seidenen Faden des Sterbens, hinter ihm das Schweißtuch der Veronika ebenso wie das Kreuz, das sich in der Treppe nach oben verliert. Triegel dreht damit um: Das Leben sprengt den Tod, trotz des Todes entsteht Leben. Das ist kein billiger Trost, sondern letzte Hoffnung inmitten der Sinnlosigkeit des Vergehens.

Der Stall unserer Tage sind die Intensivstationen. Am Krankenbett geschehen im Moment die existentiellen Erfahrungen – und die theologischen Anfragen unserer Zeit. Von uns erfordern sie eine neue Fokussierung auf ein Handeln in Verantwortung für den anderen und ein Schweigen, um die vorschnelle Antwort nach dem Sinn zu ersparen.

Auch die „Bühne unserer Foren“ bleibt leer. Wir laden Sie in diesem Jahr an Weihnachten nicht mit einem üppigen Programmheft ein. Stattdessen schenken wir Ihnen einen Text und ein Bild, um im Schweigen neu das Sprechen zu lernen. Denn wenn es stimmt, dass nicht nur Weihnachten, sondern auch diese Pandemie eine Zeitenwende sind, dann werden wir künftig anders über das Woher und Wohin und das Wozu debattieren. Darauf freue ich mich.

Zuvor wünsche ich Ihnen im Namen aller Mitarbeitenden der Katholischen Akademie ein gesegnetes Weihnachtsfest in der Stille unserer Zeit sowie den guten Beginn eines neuen Jahres 2021 

Ihr 

 

Dr. Thomas Arnold
Direktor