23. Oktober 2021

Zwischen Welten

Zwei Frauen, zwei Generationen, zwei Heimaten.

Was Karin Hildebrand und Franziska Schubert eint, ist eine Leidenschaft fürs »Einmischen« und Mitgestalten. Beide sind fest in der katholischen Kirche verankert. In Dresden trafen sie sich, um gemeinsam über Heimat, Umbrüche und Aufbrüche nachzudenken. Die Fragen stellte Frank Seibel.

 

Die GesprächspartnerInnen:
Frank Seibel war 20 Jahre lang Redakteur bei der Sächsischen Zeitung und leitet seit 2019 das Sankt-Wenzeslaus-Stift in Jauernick bei Görlitz.

Karin Hildebrand (67) war sieben Jahre lang Geschäftsführerin der Sächsischen Dampfschifffahrt GmbH & Co. KG und lebt seit 2020 wieder in ihrer Heimatstadt München.

Franziska Schubert (39) ist seit 2014 ist Abgeordnete für die Grünen im Sächsischen Landtag und wurde schnell zur Haushaltsexpertin. Im vorigen Jahr wurde sie an die Spitze ihrer Fraktion gewählt.  

 

Wo und wann können Sie die Seele baumeln lassen und ganz Mensch sein?

> Karin Hildebrand: Das ist weniger ein Ort. Es sind Menschen, denen ich zu hundert Prozent vertrauen kann. Menschen, bei denen ich mal augenzwinkernd etwas sagen kann, weil sie meinen Humor kennen. Oder bei denen ich etwas sehr Ernstes sagen kann und auch ernst genommen werde.

> Franziska Schubert: Bei mir sind es auch vor allem Menschen, denen ich unverstellt begegnen kann, notfalls auch in Jogginghosen. Allerdings habe ich das Gefühl von Heimat ausschließlich zu Hause in der Region, in der ich aufgewachsen bin und heute noch lebe – mit einigen Jahren Unterbrechung. 

> Karin Hildebrand: Bei mir gibt es das durchaus. Schon mit meinen Eltern bin ich oft nach Südtirol gereist, später mit meinem Mann. Wenn ich dort ankomme, stellt sich bei mir sofort ein Heimatgefühl ein. Ich liebe die Landschaft, den Dialekt, die Menschen, auch die Klänge dieser Region.

 

Wenn wir über Heimat und Geborgenheit sprechen: Welche Rolle spielen Religion und Kirche für Sie dabei?

> Karin Hildebrand: Ich bin im katholischen Bayern in einer sehr katholischen Familie aufgewachsen und war in einer Mädchen-Klosterschule. Später habe ich mich sehr in meiner Kirchgemeinde engagiert, habe als Mutter von drei Kindern drei Firmkurse geleitet und dabei auch meinen eigenen Glauben sehr auf den Prüfstand gestellt.
Für mich ist Religion schon Heimat, wobei Heimat ja nicht nur schön und plüschig ist. Heimat fordert einen ja auch. Mein Glauben hat sich in den letzten Jahren sehr erweitert. Er hängt nicht mehr so am Katholischen, nicht mal nur am Christlichen. Ich lebe im Bewusstsein, dass es etwas gibt, was größer ist als ich. Und ich vertraue darauf, dass mich das trägt, auch in Situationen, wenn ich das Gefühl habe, unterzugehen.

 

Frau Schubert, Sie sind in einer ganz anderen Welt aufgewachsen. Sie gehörten und gehören in der Oberlausitz zu einer verschwindend kleinen Minderheit …

> Franziska Schubert: Für mich hat sich das aber nie so angefühlt! Ich fand immer, dass bei uns ganz viel los ist, und ich hatte immer viele junge Menschen um mich herum, die auch katholisch waren und mit denen ich ganz viel anfangen konnte.
Allerdings habe ich in meiner eigenen Familie erfahren, dass es auch etwas anderes gibt. Mein Vater war nämlich evangelisch, meine Mutter hingegen katholisch. Das war damals alles andere als selbstverständlich. Ich habe früh gelernt, was es heißt, sich im Glauben zu behaupten und Argumente für seine Position zu finden.

 

Sie sind seit sieben Jahren Berufspolitikerin. Wie wirkt sich diese Erziehung auf Ihre Arbeit aus?

> Franziska Schubert: Mir hilft die klare Orientierung, die ich in der Jugend erfahren habe, sehr. Es sind politisch sehr aufregende Zeiten, seit ich 2014 in den Landtag gekommen bin. Es wird auch gewiss nicht leichter werden. Aber mich trägt mein Glauben, und mir gibt er Trost und Zuversicht. Mein Glauben stärkt mich. Für mich ist die wichtigste Botschaft der Bibel: Fürchtet euch nicht!

 

Ihre Partei, die Grünen, stehen für Emanzipation und liberale Werte, die in der katholischen Kirche keinen zentralen Platz haben.

> Franziska Schubert: Natürlich gibt es vieles, was zu ändern wäre. Ich sehe durchaus viele Dinge, die sich ändern und bessern müssen in meiner Kirche. Das Stichwort Frauen-Ordination ist nur ein Beispiel. Aber ich stelle deswegen nicht das Ganze infrage. Mein Glauben gehört zu meinem Leben.

Wo und wie begegnet Ihnen Kirche im Alltag? 

> Franziska Schubert: Immer in der Begegnung mit Menschen, nicht nur mit katholischen. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Abend beim Ostritzer Friedensfest, als konfessionelle und nichtkonfessionelle Menschen miteinander gesungen und sogar gebetet haben. Das fand ich unfassbar stark.
Für mich ist Kirche weniger ein Ort als eine Situation, eine Begegnung mit Menschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie ich oder die Themen haben, über die wir miteinander sprechen können. In solchen Situationen finde ich Gemeinschaft; auch Glaubensgemeinschaft. 

 

 

Wie ist das, wenn man den Lebensort wechselt? Fühlt sich Kirche zum Beispiel in Dresden anders an als in München?

> Karin Hildebrand: Ja, schon. Wobei ich sagen muss, dass ich nie wieder in der Kirche in München war, in der vor zehn Jahren die Trauerfeier für meinen Mann stattgefunden hat. Insofern hatte ich schon in München eine neue Heimat in der Kirche gesucht. 
Aber in Dresden war es noch einmal anders. Ich habe ein paar Kirchen besucht, wurde auch einmal zum Gemeindefasching eingeladen. Aber eine wirkliche Bindung habe ich in den sieben Dresdner Jahren nicht aufbauen können. Und jetzt ist es wegen der Corona-Pandemie in München auch noch schwierig. 

 

Die katholische Kirche ist einerseits weltumspannend. Andererseits gibt es starke regionale Ausprägungen. Das Weite und das Enge greifen da oft  ineinander. Es gibt in der ostdeutschen Diaspora eine Tradition, die sich sehr auf die DDR-Zeit bezieht: Kirche als Schutzburg, in der sich die Gläubigen gegen eine feindliche Umgebung abschirmten. Das kann beengend sein.

> Franziska Schubert: Dieses Gefühl der Enge kenne ich auch gut. Ich erinnere mich noch, als ich das erste Mal einen ökumenischen Jugendgottesdienst erlebt habe. Das war offen und frei und hat mich begeistert. Es ist immer auch eine Frage, ob man sich willkommen fühlt oder eher »beschnuppert«, ob man passt.

 

Wir haben über Heimat, Geborgenheit und Zusammenhalt gesprochen. Wenn wir nun auf unsere Gesellschaft und die großen Diskurse schauen, blicken wir auf starke Fliehkräfte, wenig Zusammenhalt und einen regelrechten Zerfall in unterschiedliche Milieus. Teilen Sie diese Wahrnehmung?

> Karin Hildebrand: Was ich beobachte, ist, dass man kaum noch diskutieren kann, weil man sofort in eine Ecke gestellt wird, wenn man etwas sagt, was nicht gängige Meinung ist. Wenn man nur ansetzt und sagt »Ich frage mich, ob …«, und dann sagt man etwas, das dem Mainstream widerspricht, dann werden einem die Corona-Toten um die Ohren gehauen.
Ich bin ein selbstbestimmter Mensch, der recht gut denken und auch gut mit Zahlen und Fakten umgehen kann. Aber es ist kaum möglich, Corona-Maßnahmen in Frage zu stellen, und das ärgert mich sehr. Ich fühle mich zurzeit bevormundet. Ich glaube, das ist es, was diese Unruhe schafft und aggressiv macht. Ich merke, dass ich selber aggressiv bin. 

 

Frau Schubert, wird man heute schneller in Schubladen gepackt als vor zehn Jahren?

> Franziska Schubert: Ich glaube, bestimmte Ordnungsmuster lösen sich zunehmend auf. Früher wusste man genau, aus welcher Ecke ein politischer Kommentar kommt. Heute ist das Meinungsspektrum viel diffuser und entzieht sich klaren Zuordnungen. Auf der anderen Seite erodieren zentrale Wertvorstellungen. Nehmen wir den Begriff der Freiheit: Es kann doch nicht sein, dass eine App bejubelt wird, die dem Staat automatisiert die persönlichen Kontakte eines Menschen in den vergangenen Wochen zuspielt!
Oder diese Stimmen, dass alle Kinder einfach durchgeimpft werden sollen, am besten noch direkt in der Schule. Ich mache mir Sorgen darüber, dass wir zu wichtigen Werte-Diskursen nicht mehr zurückfinden. Der Diskurs über Freiheit ist der eine, der über die körperliche und psychische Unversehrtheit ein anderer. 

 

Für diese Grundsatzdiskussionen brauchen wir die persönliche Begegnung, oder? Das wird mit Online-Formaten nicht zu machen sein. 

> Franziska Schubert: Ich glaube, der schwierigste Teil der Pandemie steht uns noch bevor. Das ist der Weg zurück ins Leben. Wir müssen wieder lernen, einander wirklich zu begegnen und einander nicht nur über Computerbildschirme wahrzunehmen. Wir haben uns in der Nicht-Präsenz eingerichtet und müssen wieder lernen, uns wirklich als Menschen zu begegnen. Eigentlich eine klassische Aufgabe für die Kirche. 

 

Vielleicht haben wir uns in der Pandemie zu sehr daran gewöhnt, dass die Lebenswirklichkeit auf sehr wenige Daten reduziert wurde und der Blick für das Leben als Ganzes verloren gegangen ist? Aber Politik heißt ja, darüber zu verhandeln, wie wir leben wollen. 

> Karin Hildebrand: Die Pandemie hat Entwicklungen verschärft, die es vorher schon gab. Ich bin Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin und beobachte schon lange, wie eine komplexe Wirklichkeit auf wenige Daten und Fakten reduziert wird und ganz viele Farben, die das Leben bunt und schön machen, ausgeblendet werden. Wir müssen die Menschen wieder als Menschen und nicht nur als Arbeitsplätze sehen!

 

Wir erleben in der Corona-Krise also die Zuspitzung von Trends, die es zuvor schon gab. Frau Hildebrand, Sie waren erst relativ kurz in Dresden, als 2015 »Pegida« begann. Sie waren seit 1990 immer wieder in Dresden, lange, bevor Sie hierher gezogen sind, um hier zu arbeiten. Was hat sich in all den Jahren so verändert, dass wir diesen Unfrieden erleben?

> Karin Hildebrand: Anfang der 1990er Jahre habe ich hier in Sachsen beinahe eine Goldgräberstimmung erlebt. Ganz viel war möglich und wurde auch ausprobiert. Das erinnerte mich an die Generation meiner Eltern und die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In Dresden herrschte um 1990 herum, glaube ich, eine große Illusion darüber, was Demokratie sei.
Da waren wir im Westen schon ein bisschen »abgeklärter«, was geht und was nicht. Und mit den Jahren haben viele Menschen hier in Sachsen gemerkt, viel mehr mitreden und mitgestalten als vorher kann ich jetzt auch nicht. Das hat dann wohl letztlich ziemlich viele zur Pegida getrieben. Da ging es vor allem darum, einen allgemeinen Unmut zu artikulieren, weil sie keine andere Möglichkeit hatten. 

 

Hatten sie die Möglichkeiten nicht, oder haben sie sie nur nicht gesehen? 

> Franziska Schubert: Es gibt viele Möglichkeiten, Demokratie mitzugestalten. Die Leute wissen es nur oft nicht. Sie wissen nicht, dass es öffentliche Sitzungen von Gemeinderäten und Kreistagen gibt. Sie kennen nicht ihre Rechte, zum Beispiel, dass sie zu diesen Sitzungen gehen und Fragen stellen können. Gerade kommunalpolitisch gibt es sehr viele Möglichkeiten, mitzugestalten. Wir haben also viel aufzuholen bei der politischen Bildung.
Der andere Aspekt ist, dass wir tatsächlich die Möglichkeiten der Mitbestimmung noch erweitern müssen. Darum arbeiten wir daran, die sächsische Verfassung zu ändern, um die Hürden für direkte Demokratie zu senken. 

 

Gerade die Oberlausitz ist Schauplatz regelmäßiger Proteste gegen die aktuelle Politik. Früher sind viele von dort zu Pegida gefahren, heute stehen sie an der B96 und protestieren gegen eine angebliche Corona-Diktatur – ist das wirklich ein Ausdruck von Gestaltungswillen?

> Franziska Schubert: Ich weiß, dass auch aus meinem Heimatort Neugersdorf viele Leute an diesen Protesten teilnehmen. Und nein, das sind keineswegs alles freiheitlich-demokratisch denkende Menschen. Da sind tatsächlich Leute dabei, die eigentlich immer Krawall machen. Ich finde es richtig und wichtig, Kritik zu üben. Aber ich kann es nicht entschuldigen, wenn man sich mit Reichsbürgern und Nazis an die Straße stellt. Das macht man nicht!

 

Wir haben in den ländlichen Regionen eine überdurchschnittlich alte Bevölkerung, weil viele Junge weggezogen sind. Die protestierenden Menschen sind in der Regel älter als 50 Jahre. In diesem Alter greifen viele auf Deutungsmuster aus der Jugend zurück. Diese Heimat der jungen Jahre war die DDR … 

> Franziska Schubert: Das mag ein Aspekt sein. Aber ich sehe viel stärker das Problem des Pendelns. Sehr viele Menschen, vor allem Männer, sind in den 1990er Jahren Woche für Woche in den Westen gefahren, um dort zu arbeiten. Sie waren nur am Wochenende bei ihren Familien. Das waren oft Jahre, in denen sie weder hier noch dort wirklich zu Hause waren.
Und es waren Jahre, die von einer permanenten Existenz-Unsicherheit geprägt waren. Wenn es dann ruhiger wird, schaut man zurück und sucht Verantwortliche für diese irgendwie verlorenen Jahre. Hinzu kommen ganz individuelle Erfahrungen mit Verwaltung. Da wollte einer einen Carport bauen, und das Amt hat genervt. Dann kommt das alles in eine Suppe: die da oben! 

> Karin Hildebrand: Eine Freundin von mir ist – wie ich – eine ganze Weile zwischen München und Dresden gependelt und hat mir damals geraten, mich für einen Ort zu entscheiden, weil man es sonst nicht aushält. Ich habe mich dann für Dresden entschieden. Aber letztlich waren meine Bindungen an München stärker, und ich musste dorthin zurückkehren. 

> Franziska Schubert: Viele der Menschen, die zehn Jahre lang gependelt sind, haben nicht die Möglichkeit gehabt, ihre Heimat mitzugestalten. Da hat sich etwas verändert, aber sie waren nicht einbezogen. Das macht etwas mit dem Herzen und mit dem Kopf. Und es entsteht die grundsätzliche Frage nach der Identität: Wer bin ich, wo gehöre ich hin?

> Karin Hildebrand: Vielleicht war da auch die Erwartung, dass mit der materiellen Absicherung auch allgemein die Dinge in Ordnung kämen. So wie man sagt: Wenn ich erstmal Rentner bin, dann kann ich endlich reisen. 

 

Die Veranstaltung zum Thema: Angela Merkel. Die Ostdeutsche. Am 21. November, 19.30 Uhr im Kathedralforum 

 

Also haben wir die Situation, dass die materiellen Wohlstandsparameter vielleicht stimmen, und trotzdem ist da eine große Leere. Wenn wir jetzt darüber nachdenken, wie wir als Gesellschaft nach der Pandemie wieder zusammenfinden: Welche Rolle können und sollen die Religionsgemeinschaften dabei spielen?

> Franziska Schubert: Kirchen können eine ganz wichtige Rolle einnehmen. Die Menschen sind grundsätzlich erreichbar. Aber dafür bedarf es einer einfachen Ansprache auf Augenhöhe. Das kann in der Nachbarschaft beginnen. Oder das mobile »Café Hoffnung«, das zu den Menschen hinfährt und Gespräche anbietet. Gespräche über Werte und das, was zählt. Kirche ist in der Verantwortung, den Menschen zu begegnen.

 

Das setzt eine Haltung voraus, nicht von der »Welt da draußen« zu sprechen. 

> Karin Hildebrand: Wir sind ja Teil dieser Welt! Mir fällt da ein Wort des jüdischen Religionswissenschaftlers Pinchas Lapide ein: Wir sollten nicht von der Umwelt sprechen, sondern von der Mitwelt.