22. September 2021

Machtspielchen

Karl-Rudolf Korte zur Bundestagswahl

Krasse Wechselstimmung ist im Sommer noch nicht messbar, aber die Sehnsucht nach einem neuen Auftritt nimmt zu. Das ist nach 16 Jahren »Merkelismus« auch nicht verwunderlich. Doch sicherheitsorientierte Wählerinnen und Wähler scheuen die Change Manager. Die große Veränderung, der spürbare notwendige Modernisierungsschub, muss in Deutschland behutsam erfolgen.

Nur ein einziges Mal in der Geschichte von Bundestagswahlen haben wir zwei Oppositionsparteien in Regierungsverantwortung gewählt. Das war 1998 – mit Rot-Grün. Ansonsten ist kontinuitätsverbürgend immer ein alter Koalitionspartner auch in der neuen Regierung mit dabei. Machtwechsel sind in Deutschland in der Regel dosierte Politikwechsel. Wenn im Moment viele Indizien für eine Bundesregierung unter erneuter Beteiligung der Grünen sprechen, dann wird auch dies sicher keine Alleinregierung, sondern eine mit der CDU oder der SPD, die bereits jetzt regieren. In unserer verhandelnden Umarmungsdemokratie sichern solche Moderationsmodelle auf hohem Niveau den sozialen und gesellschaftlichen Frieden im Land. Deutschland steht insofern keineswegs vor einem radikalen Umbruch. Die politische Mitte wird breiter, bunter, mobiler. Bewusste Koalitionswähler stärken die Konturen des Neuen, aber ohne Radikalität. Auch grüne Kanzlerinnen wären eingehegt in pragmatisches Regieren. Grüne Programmatik zum sichernden, lenkenden, resilienten Vorsorgestaat ist zudem unter Corona-Bedingungen zum Wunschbild aller Parteien der politischen Mitte geworden.

Auf dem Koalitionsmarkt besteht die politische Arithmetik nicht in der Addition von Wählerstimmen, sondern in der Kombinierbarkeit politischer Absichten. Und die sind in der politischen Mitte vielfältig gestaltbar. Denn gerade ungewöhnliche Koalitionen kommen nicht in erster Linie aufgrund von politischen Schnittmengen zustande. Nicht die Logik von Lagern und Ämtern führt dann zur Bildung von Koalitionen, sondern das Persönliche. Dabei dreht es sich nicht um Sympathie zwischen den Verhandlungsführern, sondern um Vertrauen, Verlässlichkeit, Wertschätzung, Integrität. Das Kennenlernen auf Bewährung wird in den ersten Sondierungsgesprächen auf Belastbarkeit ausgetestet. Wächst das persönliche Vertrauen, sind viele Koalitionsvarianten denkbar.

Das Virus wird auch die Koalitionsoptionen mit beeinflussen. Im Augenblick sind wir erschöpft, gereizt, enttäuscht, weil so viel nicht funktioniert. Gleichzeitig wächst mit dem Impffortschritt die Zuversicht. Die Schuldzuschreibung gilt auch dem »Merkelismus«. Die Kanzlerin war immer bravourös in der Beschreibung und Bearbeitung von Wirklichkeiten; aber sie agierte dilettantisch im Aufzeigen von Möglichkeiten. Doch ohne Möglichkeitsmacher fehlen politische Ziele und ohne Ziele kommt kein konstruktiver Streit auf, der die Qualität einer Demokratie ausmacht. Der Wirklichkeitsgehorsam dieses Regierungsstils, der uns sicher durch viele Krisen navigierte, kommt an einen Endpunkt, weil ihm der Möglichkeitssinn fehlt.

Das merken wir besonders im pandemisch geprägten Superwahljahr 2021. Jede Umgangsroutine, jedes Festhalten an den Erfolgsstrategien der vergangenen Jahre, führt nicht zum Durchbruch. Das Unwahrscheinliche zu managen – den unsichtbaren Feind zu bekämpfen – setzt mehr als nur neue Lagedefinitionen voraus. Moderne Verunsicherungsfähigkeit erfordert Probehandeln im Geiste. Die Pandemie hat mit aufklärerischer Präzision gezeigt, dass in Deutschland enormer Reformbedarf für die Transformation in eine digitale Nachhaltigkeitsgesellschaft existiert. Insofern reicht es für die Politik nicht mehr, nur auf Reparatur am Wohlfahrtsstaat zu setzen; sie muss eine Führungserzählung intonieren. Die Bereitschaft der Wählerinnen und Wähler, begierig zuzuhören, ist riesig. Die sicherheitskonservativen Wählerinnen und Wähler erliegen im Superwahljahr allerdings nicht spontan dem Charme der Anarchie oder dem Sickergift der Extreme. Doch die Bereitschaft, in pandemischen Zeiten der Unsicherheit auf eine leitende Orientierungsgeschichte zu hören, ist ausgeprägter als der Wunsch nach Status quo und Weiter-so. Der Bedarf am »Auf Sicht fahren« ist aufgebraucht. 

Bei all der tagespolitischen Aufgeregtheit soll nicht unterschlagen werden, dass unser politisches System mit der pandemischen Disruption bislang gut zurechtgekommen ist. Die allermeisten Bürgerinnen und Bürger folgen vernunftbestimmt dem kuratieren Regieren aus Berlin oder den Landeshauptstädten. Ein Wahlkampf unter Wütenden steht nicht bevor. Trotz Müdigkeit und Protest erweist sich das Virus deshalb auch als ein stabiles Macht-Revitalisierungsprogramm. Wir erlebten das bei den Landtagswahlen: In Mainz, in Stuttgart, in Magdeburg siegten die bewährten Krisenlotsen. Wähler wählen auch in der Pandemie das Bekannte, nicht das Unbekannte. 

Doch die Bundestagswahl setzt dieses Wahlverhalten unter Druck: Das Bekannte, die Kanzlerpräsidentin als Soliditäts-
Garantin, tritt nicht mehr an. Die Koalitionsvarianten lauten deshalb für den Bund: Schwarz-Grün oder Grün-Schwarz als mögliche Fortsetzung einer Großen Koalition, gedacht als Bündnis der beiden größten Bundestagsfraktionen; Schwarz-Grün-Gelb als Jamaika revival; Grün-Rot-Gelb als grüne Ampel, in dieser Formation ein Unikat. Eine Corona-Prämie wird am Wahltag nur zu verteilen sein, wenn die Pandemie in einer weitgehend geimpften Republik überwunden scheint. 

Als besonders Merkel-enkeltauglich erweist sich der Kandidat der SPD. Er hat in Hamburg bewiesen, wie moderne Urbanität sozialverträglich mehrheitsfähig bleibt. Als Typus einer gesellschaftspolitisch progressiven Mitte prägt er auch das Ruhe-Regiment, mit vornehmer Unangreifbarkeit gekoppelt mit Risiko-Unlust. Wer sich für die Fortsetzung der Merkel-Politik stark macht, findet mit Scholz einen sehr mächtigen Aspiranten. Wenn Wähler weiterhin auf das Bekannte und weniger auf das Unbekannte setzen, könnte Scholz den Vizekanzler-Bonus voll einbringen.

Die Grünen leben vom Zulauf aus mehreren Richtungen. Sie sind multikoalitionsfähig – sichtbar in Regierungsverantwortung und in der Opposition zugleich. Sie verkörpern das Kompetenzzentrum für Umwelt- und Klimapolitik, einem Thema, das bürgerliche Wähler sehr beschäftigt. Ein schonender Umgang mit Ressourcen in der stillgestellten Zeit hat bürgerliche Wähler zusätzlich mit grünen Ideen versöhnt. Von der Corona-Prämie profitieren die Grünen, weil sie auch mit ihrer professionellen Doppelspitze im Bund einen gewachsenen Bedarf nach normativer Orientierung befriedigen. Der Kommunikations- und Führungsstil begeistert bürgerliche Kreise, die sich selber mit Realitäts-Demut geißeln. Hier hat nicht die neo-dirigis-
tische Entschiedenheitsprosa (Typ Söder) Aussicht auf Gehör, sondern eher Macht-Poesie als Moderation von Komplexität. Wie sehr die Grünen zum Typus einer modernen Volkspartei aufgestiegen sind, zeigt sich am Führungsanspruch, mitregieren zu wollen. Es ist deshalb schlüssig, erstmals auch eine Kanzlerkandidatin benannt zu haben. Parteien sind Machterwerbsorganisationen, denn sie verteilen Macht auf Zeit. 

Der CDU fehlt nach langen Jahren des Regierens ein Machtzentrum. Laschet als neuer Vorsitzender ist noch nicht so gefestigt im Amt, dass er die Kanzlerkandidatur einfach verkünden konnte. Der Machtpoker um die Kandidatur fesselte im Babylon Berlin und hinterließ tiefe Risse sowohl in der CDU als auch zwischen den beiden Schwesterparteien. Söder nutzte das Machtvakuum des frischen Vorsitzenden der CDU, um seine Kandidatur zu erzwingen. Mit rebellisch-brachialem Populismus zweifelte er öffentlich an der Repräsentativität der politischen Willensbildung in den Führungsorganen der CDU. Déjà-vue?  Als Strauß sich 1975/76 ebenso nicht gegen den CDU-Vorsitzenden Kohl durchsetzen konnte, konterte er nach der Bundestagswahl mit dem Kreuther Trennungsbeschluss der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU im Deutschen Bundestag. Doch nur mit versöhnter Verschiedenheit wird die Mobilisierung der Unionsanhänger im Superwahljahr gelingen. Nebenkanzler-Kandidaten müssen für den Hauptkanzlerkandidaten werben. Alles andere wäre Selbstaufgabe.

Mitglieder der Parteien sind in der Regel konservativer als die Wählerinnen und Wähler. Das gilt für alle Lager. So erscheint die Union heute programmatisch rechter und die SPD linker als noch vor ein paar Jahren. Das strategische Zentrum des deutschen Parteiensystems könnten deshalb längerfristig die Grünen besetzen. Auch die Liberalen profitieren von der Schwäche der Union. Als Freiheitsapostel binden sie geschickt Forderungen nach Öffnung und Normalisierung unseres Lebens an die Wertetradition der FDP. Doch was am Ende im September trägt, ist von der Corona-Lage abhängig. Die Sehnsucht nach einer verlässlichen Autorität schlummert und wird aktiviert, wenn die pandemische Unmündigkeit andauert. Wie stark kann sich die progressive Mitte davon absetzen? Oder wird das deutsche Koalitionsmodell den Ausgleich weisen müssen: das Heroische, mit dem Post-Heroischen in einer Regierung zu verbinden? Wer liefert überzeugend Kraftquellen der Zuversicht? Führungserzählungen sind die Orientierungsfilter für die Wahlentscheidung.

 

Über den Autor

 

Karl-Rudolf Korte ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und Direktor der NRW School of Governance. Zum Weiterlesen seine aktuelle Publikation: Martin Florack/Karl-Rudolf Korte/Julia Schwanholz (Hg.) Coronakratie – Demokratisches Regieren in Ausnahmezeiten, Campus Verlag 2021.