01. September 2021

Von Mensch zu Mensch

Die online-Kolumne zur Sonderausgabe des Eulenfischs

Endlich wieder echte Menschen! Endlich wieder echtes Leben! Zufallsbegegnungen auf der Straße, auf dem Wochenmarkt, beim Konzert, im Restaurant. Begegnungen, die ganz unverkrampft und friedlich verlaufen, weil wir uns über jedes Lachen und Augenzwinkern freuen und beim Plausch über Gott und die Welt weniger auf Einsfünfzig Abstand achten als auf jene feine Mischung aus Nähe und Distanz, die unterschiedlichste Menschen wie ein kunstvoll geknüpftes Netz verbinden kann. Wir Menschen sind eben soziale Wesen, lautete der Befund spätestens in der zermürbenden zweiten und dritten Corona-Welle, die uns monatelang von dem abgeschnitten haben, was wir unser normales Leben nennen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Wir sind nicht nur soziale Wesen, sondern auch und vor allem Kultur schaffende – und von Kultur getragene.

Das gilt nicht nur für die Künstler und Kunsthandwerker aller Sparten, Farben, Neigungen und Geschlechter, sondern für jeden von uns. Das Leben besteht zum großen Teil aus Spiel und (Selbst-)Inszenierung. Spätestens nach einigen Wochen im Home-Office wurde spürbar, was uns verloren geht, wenn die einzigen echten Bühnenauftritte die lebenserhaltenden Maßnahmen im Supermarkt um die Ecke sind. Da blitzte zum Glück gelegentlich noch auf, dass es neben der Maskerade auch noch die Etikette gibt. Und das obwohl uns mit der verordneten Medizinmaske ein weiteres Spiel-Zeug  genommen war: die irgendwie individuelle, elegante oder lustige Stoffmaske.

Für den kulturvollen Auftritt blieb nur noch die geliebtgehasste Videokonferenz und die bisweilen durchaus vergnüglichen Betrachtungen über das neue „Oben hui, unten pfui“. Die modische Selbstteilung in Bluse und Blazer, Hemd und Sakko oberhalb der Tischkante und Jogginghose darunter hat den feinen, aber wichtigen Unterschied zwischen „sozial“ und „kulturell“ verbildlicht.

Womit wir bei einer mehr als nur kollateralen Folge der Corona-Pandemie wären. Die Verlagerung weiter Teile des (Er)Lebens ins Internet führt offenkundig dazu, dass Menschen zunehmend zu Jogginghosenträgern werden, was Umgangsformen betrifft. Wenn nicht mehr göttliche Umsicht die zwischenmenschlichen Begegnungen lenkt, sondern kühl kalkulierende Algorithmen, dann geraten wir ins Räderwerk einer Etikettiermaschine, die nur Entweder-Oder kennt. Schwarz oder weiß, gut oder schlecht, links oder rechts.  Dann geht das Gespür für Feinheiten und das Sowohl-als-auch verloren, die soziale Kontakte zu Kultur-Erlebnissen machen. Und uns zu echten Menschen.

Der Kolumnist: Frank Seibel lebt in Görlitz und leitet das Sankt-Wenzeslaus-Stift in Jauernick, das Bildungshaus des Bistums Görlitz