09. Mai 2021

„In einer vormodernen Vorstellungswelt gefangen“

Mainzer Moraltheologe Goertz in der aktuellen Podcast-Folge zu Segen als pastoralem Ungehorsam

 

Dresden, 10.05.2021: In der aktuellen Podcast-Folge von „Mit Herz und Haltung“ bezieht der Mainzer Moraltheologe, Prof. Dr. Stephan Goertz, im Gespräch mit KNA-Redakteurin Dr. Karin Wollschläger Stellung zu den am heutigen Tag stattfindenden bundesweiten Segensgottesdiensten für Liebende, in denen auch homosexuelle Paare gesegnet werden. Eine Gruppe katholischer Seelsorgerinnen und Seelsorgern hat unter den Hashtags #mutwilligSegnen und #liebegewinnt dazu aufgerufen und reagiert damit auf das erneuerte Nein des Vatikans zur Segnung homosexueller Paare.

 

Der Moraltheologe beobachte als Wissenschaftler diese binnenkirchlichen Entwicklungen. Er fände es „sehr bemerkenswert, dass jetzt so viele Seelsorgerinnen und Seelsorger tatsächlich ihrem Gewissen folgen […] und sich im Grunde außerhalb des bisherigen Gehorsamsverständnisses ihrer Kirche bewegen“ würden. Goertz führt näher aus, dass es „in der Katholischen Kirche ja eigentlich nicht vorgesehen [sei], dass […] ein Kleriker, dem eigenen Bischof ungehorsam ist“. Mit Spannung erwarte er, „wie das System auf diese Provokation“, also die Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, reagieren werde. Der Moraltheologe hoffe auf eine „Intensivierung der Debatte“ und dass es letztlich „Zeichen der Versöhnung […] in Richtung schwuler und lesbischer Paare“ geben werde.

Im Hinblick auf die kirchliche Sexualmoral führt Goertz aus, dass nicht nur in der Vergangenheit Sexualität zu „pessimistisch“ bewertet und zu stark auf die „Zeugung von Nachkommenschaft“ in der Ehe vonseiten des Lehramts abgezielt worden sei. Wenn „Reproduktion“ der primäre Zweck von Sexualität sei, dann habe Homosexualität „keinen Platz […] innerhalb dieser Moral“.

Angesprochen auf das erneuerte Nein des Vatikans zur Segnung homosexueller Paare im Responsum ad dubium der Kongregation für die Glaubenslehre, führt Goertz aus, „dass man den römischen Dokumenten noch immer“ deutlich anmerke, „dass sie in einer vormodernen Vorstellungswelt gefangen“ seien. Diese „Sinnbestimmung menschlicher Sexualität“ entspräche „aber nicht mehr dem modernen Selbstverständnis“ und auch nicht einem „modernen sexualwissenschaftlichen Wissen“.

Der Moraltheologe plädiere stattdessen für einen „Vorrang der Liebe gegenüber dem Vorrang des Natürlichen“. Man müsse „das Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung respektieren“ und diesen Vorrang „konsequent […] in die Sexualmoral integrieren“. Wenn sich „zwei Menschen respektvoll, liebevoll begegnen“ sei deren „Sexualität völlig unproblematisch“, denn es würde niemandem „ein Schaden zugefügt“, es gäbe „aus moderner Sicht keine negativen Folgen“. Vielmehr sei Sexualität ein „Ausdruck von Liebe und Verantwortung“.

Goertz bekennt, dass dem Vatikan die moraltheologischen und humanwissenschaftlichen Argumente längst bekannt seien, jedoch „bisher […] nicht gewürdigt“, sondern als „nicht-legitime Abweichung von der traditionellen Lehre“ angesehen worden wären. Er hoffe darauf, dass ein „Dialog mit Schwulen und Lesben“ in Gang komme und dass sich Rom „von der Lebenswirklichkeit dieser Menschen, von deren Beziehung, von deren Partnerschaft, von deren Sehnsüchten, von deren Wunsch, dass ihre Beziehungen gesegnet werden“ überzeugen lasse.

Bei aller Skepsis zieht der Moraltheologe ein zuversichtliches Fazit: Es gäbe „ermutigende Zeichen“ und unter den deutschen Bischöfen ein gewisses Umdenken, eine „Bewegung“, in der Frage der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, wobei aber die Deutsche Bischofskonferenz im Ganzen „alles andere als einig“ sei.

 

Das ganze Gespräch zum Nachhören finden Sie hier:

https://lebendig-akademisch.podigee.io/94-pastoraler-ungehorsam

 

Podcast „Mit Herz und Haltung“

Im Podcast „Mit Herz und Haltung“ der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen nehmen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens sowie Expertinnen und Experten verschiedener Fachdisziplinen Stellung zu den wissenschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen und kirchlichen Fragestellungen. Neue Folgen erscheinen in regelmäßigen Abständen auf Spotify, Deezer, Apple Podcasts, YouTube sowie auf den Websites der Akademie (www.lebendig-akademisch.de) und des Bistums (www.bistum-dresden-meissen.de).

Bislang sind 93 Folgen erschienen.

Pressefoto

Als Bildnachweis ist anzugeben: © Nicole Cronauge/Bistum Essen

 

Kurzbiografie

Stephan Goertz (Jg. 1964) studierte Katholische Theologie u.a. an der Ruhr-Universität Bochum. Von 1992 bis 2004 war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Moraltheologie der Fakultät Münster tätig. Goertz promovierte sich 1998 im Fach Moraltheologie und erhielt 2000 den Wissenschaftspreis des Katholisch-Sozialen Instituts der Erzdiözese Köln für seine Dissertation. Im Jahr 2003 habilitierte er sich in Münster und wurde an der dortigen Fakultät im selben Jahr zum Hochschuldozenten ernannt. Ein Lehrauftrag führte Goertz an die Fakultät Duisburg/Essen. Von 2004 bis 2010 war er Lehrstuhlinhaber für Sozialethik und Praktische Theologie am Institut für Katholische Theologie der Universität des Saarlandes. Seit 2010 ist Goertz Professor für Moraltheologie an der kath.-theol. Fakultät der Universität in Mainz. Stephan Goertz veröffentlichte zusammen mit Christof Breitsameter 2020 das Buch „Vom Vorrang der Liebe: Zeitenwende für die katholische Sexualmoral“ (Herder) und brachte 2015 den Sammelband „Wer bin ich, ihn zu verurteilen? Homosexualität und katholische Kirche“ (Herder) heraus.