26. Februar 2021

Was und wie, wenn ohne Gott?

Grußwort von Bischof Heinrich Timmerevers zum Auftakt des Kongresses

- es gilt das gesprochene Wort -

 

Sehr geehrte Damen und Herren, verehrte Synodale, liebe Schwestern und Brüder,

eigentlich war der heutige Kongress ganz anders geplant. In einem gewöhnlichen Jahr 2021 hätten wir uns alle im Anschluss an die Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Dresden getroffen. Vielleicht hätten Sie die Gelegenheit genutzt, neben der Kathedrale auch einige künstlerische Kleinode Sachsen wie Raffaels Sixtinische Madonna in der Gemäldegalerie Alte Meister im Zwinger zu bewundern – beides Zeugnisse einer Epoche, in der das Sakrale noch greifbarer schien, das Christentum das bäuerliche Jahr auf dem Land und den Alltag in der Stadt strukturierte – Stein und Bild wurde. 

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Katholischen Akademie unseres Bistums und auch ich persönlich hätten uns sehr gefreut, Sie im schönen Sachsen begrüßen zu dürfen. Corona hat diesen Planungen – wie so vielem im vergangenen Jahr – einen großen Strich durch die Rechnung gemacht. An dieser Stelle will ich deshalb allen an diesem Kongress beteiligten Mitveranstalter der Fokolar-Bewegung Deutschland und  den Förderern, nämlich dem Zentrum für Angewandte Pastoralforschung der Ruhr-Universität Bochum, der Zeitschrift Herder Korrespondenz, und dem Bonifatiuswerk der deutschen Katholiken herzlich für Ihre Unterstützung und das gemeinsame Bemühen rund um die Verlagerung dieses Angebots ins Digitale danken. Ich freue mich sehr, dass sich durch ihr Engagement nun über 330 Personen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, Luxemburg, Italien, Ungarn und der Tschechischen Republik auf digitalem Wege angemeldet haben und zusammenkommen konnten. Es ist klar: Wenn wir beim Synodalen Weg erfolgreich sein wollen, dann muss uns eine Haltung prägen: Sind wir selbst sensibel genug für die W-Fragen des Glaubens? Und sind wir bereit, eine gegebenfalls neue Abwesenheit Gottes zu akzeptieren?

Manches persönliche Wiedersehen, manch vertrautes Gespräch am Rande unseres Kongresses – nicht zuletzt mit anderen Fokolaren – ist nun leider nicht möglich. Vielleicht steht dieses der immer noch andauernden Pandemie geschuldete digitale Format des Austausches – versprengt an den heimischen Schreibtischen und über große Distanzen hinweg – aber ja gerade paradigmatisch für eine Erfahrung, die mit Anlass zu diesem nun digitalen Kongress war: Lange Selbstverständliches gerät auch im Bereich des Religiösen zunehmend ins Wanken. Und so passt der angestrengte, suchende Blick auf das Computerdisplay ja vielleicht viel besser als eine Kulisse barocker Selbstsicherheit zur titelgebenden Frage dieses Kongresses, die in ihrer Absolutheit beim ersten Hören erst einmal stutzig macht: „Was und wie, wenn ohne Gott?“

Deswegen ist es keine Zeit zum Klagen. Lassen Sie uns mutig sagen: Über Gott und sein Vermissen lässt sich auch über die Distanz des Digitalen sprechen. Ohne den vielfältigen Perspektiven der kommenden zwei Tage zu sehr vorgreifen zu wollen, möchte ich rund um diese Frage zu Beginn unseres Kongresses drei Gedanken mit Ihnen teilen:

I.

„Was und wie, wenn ohne Gott?“ Auf der zurückliegenden Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz haben wir uns intensiv mit den hohen Kirchenaustrittszahlen befasst. Freilich sind ein Verlassen der Kirche und eine (wachsende) Distanz zu Gott nicht völlig gleichzusetzen. Aber die Zahlen können als Indiz für das gewertet werden, wovon in jüngerer Zeit häufiger als „Abwesenheit Gottes“ die Rede ist.

Als eine erste Antwort auf die Frage „Was und wie, wenn ohne Gott?“ haben die Organisatoren des Kongresse, Prof. Dr. Sellmann und Herr Dr. Arnold in ihrem gestrigen Gastbeitrag bei katholisch.de nochmals ein anschauliches Bild von den christlichen Mystikerinnen und Mystikern des 20. Jahrhunderts als „Seismographen“ des Kommenden gezeichnet. Es lässt sich an Beispielen wie Madeleine Delbrêl, Mutter Teresa oder Chiara Lubich aufzeigen, wie diese Menschen früher als andere die existentielle Erfahrung von Gottes Abwesenheit und Gottverlassenheit, des Deus absconditus ins Wort gefasst haben. Mit Blick auf die Schriften der genannten Personen kommt er zu dem Schluss: „Gott zieht sich offenbar zurück. Er verändert den Modus seiner Anwesenheit so, dass er uns immer abwesender vorkommt. Jedenfalls mit den Augen von gestern und heute wird man ihn morgen nicht mehr erkennen.“ Wie größere Erdstöße oder Vulkanausbrüche sich durch Vorbeben auszeichnen, wertet er die Zeugnisse dieser modernen Mystikerinnen und Mystiker als Vorzeichen für eine Erfahrung, die dem Christentum und der Kirche insgesamt noch bevorsteht.

Wodurch sich diese Erfahrung auszeichnet – und so die These – in Zukunft noch deutlich stärker auszeichnen wird, verdeutlicht ein Zitat von Dietrich Bonhoeffer: „Und wir können nicht redlich sein, ohne zu erkennen, daß wir in der Welt leben müssen – ‚etsi deus non daretur. Und eben dies erkennen wir vor Gott. Gott selbst zwingt uns zu dieser Erkenntnis. […] Gott gibt uns zu wissen, daß wir leben müssen als solche, die mit dem Leben ohne Gott fertig werden. Der Gott, der mit uns ist, ist der Gott, der uns verläßt (Mk 15,34.)“

Beim letzten Satz hat Bonhoeffer dabei den Jesus aus der Markuspassion und dessen Schmerzensruf am Kreuz im Blick: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Der Gottessohn und wir als Menschen teilen die Erfahrung der Gottverlassenheit – eine bei aller Drastik des Zitats tröstliche Vorstellung. 

II.

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz berichtete gestern zum Abschluss der Vollversammlung in der Pressekonferenz von einem Mann, der ihm am Abend zuvor eine Mail schrieb, weil er aus der Kirche austreten will, dass er sich eine Kirche wünsche, die mystisch ist. Bischof Bätzing antwortete darauf, dass er die Kirche als eine Familie erfährt, an der er auch manchmal leide. Ich empfinde es sehr ähnlich. Gewalt, weder geistig oder geistlich, noch körperlich, haben in einer Familie nichts zu suchen! Sonst wird die Kirche in Zukunft Mystikerinnen und Mystikern nur noch schwer einen Platz bieten können. Ich  suche in dieser Kirche genau so wie andere. Aber dazu gehört auch: Ich mache als Bischof und als Mensch Fehler, wenn ich mich noch so redlich bemühe, meinen Glauben zu verkünden. 

Deswegen ist zentral am Beginn des Kongresses: „Was und wie, wenn ohne Gott?“ im Jahr 2021 – mitten auf dem Synodalen Weg, der ja im Anschluss an die MHG-Studie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche seinen Anfang nahm – dürfen wir eine solche Frage nicht mehr stellen, ohne dabei nicht auch die zahlreichen davon betroffenen Menschen mit im Blick zu haben. „Was und wie, wenn ohne Gott?“ Auch dieser Frage mussten sich Opfer sexuellen und geistlichen Missbrauchs im Raum der katholischen Kirche – zusätzlich zu all dem physisch wie psychisch erlittenem Leid – allzu oft stellen. Bei den Begegnungen mit Betroffenen hat mich sehr bewegt, dass häufig das ganze Leben dieser Menschen vom Missbrauch überschattet wird und oft bis zum Lebensende gezeichnet ist. Statt Glauben zu fördern, wurde der Glaube an einen liebenden Gott für diese Menschen nachhaltig zerstört, so dass für manche diese Frage „Was und wie, wenn ohne Gott“? wohl als bleibende Lücke klafft. 

Das Leid der Betroffenen ist menschliches Leid, das von Täterinnen und Tätern begangene Unrecht menschliches Unrecht. Hier gibt es nichts zu spiritualisieren und vorschnell kulturkritisch mit einer „Abwesenheit Gottes“ in Bezug zu setzen, da sonst unweigerlich eine Instrumentalisierung droht. 

Dennoch lohnt an dieser Stelle eine selbstkritische Analyse und begriffliche Schärfung: Wo scheint sich Gott uns zu entziehen? Eine Empfindung, die für uns durch die erwähnten Mystiker nur anfänglich sichtbar wird und der wir auf diesem Kongress gemeinsam nachspüren sollten. Und wo entziehen wir uns Gott? Menschliches und kirchliches Versagen, das klar benannt werden kann. Oder zugespitzter gefragt: Entziehen wir als Kirche den Menschen Gott? Wo treiben wir als Kirche die Menschen von Gott weg? Die Antwort auf diese Frage wird entscheidend vom weiteren Umgang mit sexuellem und spirituellem Missbrauch in der katholischen Kirche, von dessen konsequenter Prävention, aber auch dessen entschiedener Aufarbeitung abhängen.

III. 

„Was und wie, wenn ohne Gott?“ Als Bischof von Dresden-Meißen will ich Ihnen zur Frage des Kongresses zuletzt noch eine sächsische Perspektive mit auf den Weg geben: Wie Sie sicher wissen, stamme ich nicht aus dem Bistum Dresden-Meißen, sondern aus dem Oldenburger Münsterland. Wenn ich mich zu Beginn meiner Amtszeit hier vorgestellt habe, von der Biografie her, habe ich manchmal dieses Bild genommen: Ich bin in einem katholischen Aquarium großgeworden – vielleicht geht es vielen von Ihnen ganz genauso. Aquarium, das heißt: Da waren die Pflanzen katholisch, da waren die Steine katholisch, die Fische waren katholisch, das Gefäß war katholisch, alles war katholisch – das Wasser war katholisch. Ich hatte gar keine Chance, nicht katholisch zu werden. Und jetzt passiert Folgendes: Das Aquarium, das Gefäß, bekommt einen Riss und so ganz langsam fließt das katholische Wasser ab, und der katholische Fisch muss, wenn er überleben will, seine Atmung umstellen von Kiemenatmung zur Lungenatmung. Nur dann kann er überleben. 

Ich glaube, dass hier in Sachsen die Katholikinnen und Katholiken (früher als anderswo) gelernt haben, katholisch zu atmen in einem Umfeld, das nicht katholisch ist. Schließlich machen wir hier nur 3,5 Prozent der Bevölkerung aus, bei 20 % evangelischen Christen und einer großen Mehrheit, die keiner der beiden großen christlichen Kirchen angehört. Für ganz viele Menschen gibt es überhaupt keine Berührungspunkte mit Kirche und mit Glauben. Aber ich glaube, dass wenn ich nach Westdeutschland blicke, in unsere traditionellen katholischen Bistümer, es die gleiche Aufgabe ist: Die Katholiken, ja alle Christinnen und Christen, sind gerufen, in einem Umfeld, das sehr säkular wird, zu lernen katholisch zu atmen, christlich zu atmen – Gott nicht als das mich gleichsam immer schon umgebende Selbstverständliche zu begreifen, sondern aktiv zu suchen. Deswegen sende ich auch persönlich von dieser Stelle einen Gruß an die neue Generalsekretärin der Bischofskonferenz, liebe Frau Gilles, und all jene, die von Ihnen heute dabei sind: Kommen Sie vorbei! Wir wollen gute Gastgeber für Gottessucher sein! Denn Sachsen und Ostthüringen können nicht nur Kultur. Dieser Landstrich kann auch Gottessuche. Und will Gottesentdecker. Sie sind uns herzlich willkommen! Auch innerhalb der Kirche können wir im Hören und gemeinsamen Leben noch lernen, mehr von den unterschiedlichen Situationen und den damit verbundenen Chancen zu erfahren.

Ich habe für den bischöflichen Dienst dieses Wort mir gewählt, 2001: „Suchet, wo Christus ist.“ Heute – nach meinem Wechsel von Vechta nach Dresden – ergänze ich das manchmal und sage: „Suche dort Christus, wo er vergessen ist.“ Wenn man das konsequent durchdenkt und zu einer Haltung macht, dann findet man auch einen Zugang zu den kirchenferneren Menschen, die hier leben. Gott da suchen, wo er nicht vermisst wird. Entscheidend dafür ist eine Haltung, die dafür offen ist, Christus auch dort zu entdecken, wo man ihn vielleicht auf den ersten Blick – ausgehend von der eigenen Prägung – nicht vermutet hätte. 

Prof. Dr. Sellmann kommt in seinem eingangs erwähnten Artikel zu dem Schluss, dass „wenn es seismografisch stimmt, dass Gott dabei ist, sich zu verfremden, sich unerkennbarer macht, in die Abwesenheit geht“, „Säkularität […] [nicht als] Großschadenslage der Religionsgeschichte, sondern [als] der neue Weltraum, in dem es Gott neu zu suchen gilt“ begriffen werden kann. Ich denke, in dieser Feststellung liegt eine besonders wichtige Erkenntnis: Als Christinnen und Christen sollten wir – bei allem Schwinden von Vertrautem und Liebgewonnenen auch im Raum der Kirche – nicht in Nostalgie oder Kulturpessimismus verfallen. Was uns ausmacht, ist eine andere Deutung von Geschichte, auch von Kirchengeschichte: Nicht als Verfall und mit bangem Blick auf die Zukunft, sondern als Chance, mit Neugierde und Zuversicht für ein neues Kapitel, das Gott gemeinsam mit uns schreiben will. Und so will ich Ihnen als eine erste tastende (sächsische) Antwort auf die große Frage „Was und wie, wenn ohne Gott?“ ein Wort des Propheten Jesaja mitgeben: „Siehe, nun mache ich etwas Neues, schon sprießt es, merkt ihr es nicht?“ Ich bin dankbar dafür, dass ich es manchmal merken kann. 

Und nicht zuletzt wünsche ich uns allen, dass sich aus den kommenden zwei Tagen des aufmerksamen Zuhörens, des wirklichen Hinhörens auf die Perspektiven und Zugänge des Gegenübers, ebenfalls etwas Aufknospendes, Neues, ein neuer Blick ergeben kann – der uns vielleicht auch weiter durch die kommenden Tage der Fastenzeit hin auf Ostern begleitet. Schlagen wir mit dem Kongress etwas Neues auf. Lassen Sie uns gemeinsam fragen statt vorschnell Antworten zu bieten.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Herzlich willkommen in Sachsen. Wenn auch digital.