25. Dezember 2020

Heilig und bedingungslos?

Weihnachten in der zerbrechlichen Existenz

Vom Mittelpunkt aus ist alles erreichbar. Schnell versucht der Mensch, diese Position einzunehmen. Was, wenn Liebe diesen
Egoismus und die Angst und Gleichgültigkeit überwindet? Was, wenn im Sterben dieser Zeit tieferes Leben aufscheint, weil Gott sich sehnt, Mensch zu sein?

Text: Prof. Dr. Tomáš Halík, Prag
Übersetzung: Markéta Barth, Radolfzell
Gemälde: Michael Triegel

 

 

Das Fest der Geburt Jesu Christi ist für uns nicht eine fromme Erinnerung an den Geburtstag eines großen Menschen aus einer längst vergangenen Zeit, sondern eine Botschaft, die etwas Wesentliches über den Menschen als solchen aussagt, über unser Menschsein – und auch über Gott und seine Beziehung zur Menschheit.

Größe und Freiheit

Das Wort »Gott« ist für viele Menschen zum Fremdwort geworden. Es klingt fern, verdächtig und weckt auch unangenehme Gefühle. »Wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein!«, schrieb einmal der Philosoph Friedrich Nietzsche. Vielleicht hat er mit diesem Gedanken einen der Gründe dafür erfasst, warum für manche schon allein die Idee Gottes unangenehm und nicht annehmbar ist. Hinter der Behauptung von manchen Menschen, dass »Gott nicht ist«, steht nicht so sehr die Überzeugung, dass die Wissenschaft über die Existenz eines sochen Wesens nichts aussagen kann, sondern vielmehr das Gefühl, dass es Gott nicht geben darf.

Er wäre mein Konkurrent; er würde meine Größe und meine Freiheit einschränken – mit anderen Worten: Er würde mir nicht erlauben, Gott zu sein.

Ist nicht die Versuchung, Gott zu sein, etwas, das tief im Herzen eines jeden Menschen schlummert? Die Bibel erzählt uns auf ihren ersten Seiten, dass es dem Menschen – kaum, dass er aus dem Staub der Erde aufgestanden war – nicht genügt hat, dass er als Abbild und Gleichnis Gottes erschaffen wurde. Er wollte wirklich Gott sein; er wollte sich an die Stelle Gottes stellen; er wollte Gut und Böse erkennen, um darüber entscheiden zu können, was gut und böse ist, um über das Gute und das Böse frei verfügen zu können.

Gott zu sein, Gott von seinem Platz zu verdrängen und sich selbst auf diesen Platz zu stellen, so zu tun, als ob man Gott sei – diese verlockende Vorstellung erregt die menschliche Fantasie. Eigentlich ist jede böse menschliche Tat dadurch böse, weil sie faktisch dieser Sehnsucht zum Durchbruch verhilft: auf niemanden Rücksicht zu nehmen; selbst derjenige zu sein, der nach
eigenem Belieben entscheiden darf, was gut und was böse ist; derjenige zu sein, der Regie führt über sein Leben und das Leben der anderen Menschen – das Bestreben, der Mittelpunkt von allem zu sein. Dieser menschliche Stolz zieht sich in vielen Ausdrucksformen durch die ganze Menschheitsgeschichte; er ist die wesentliche, »existenzielle« Lüge, weil sich der Mensch damit für etwas ausgibt, das er nicht ist und nicht sein kann. Er verlässt den Platz, der für ihn gemäß der Schöpfungsordnung vorbehalten war.

Und auf einmal hören wir aus der Stille der Weihnacht eine ganz verstörende Botschaft: dass im Herzen Gottes eine andere Sehnsucht ist – die Sehnsucht, Mensch zu sein. Das Wesentliche an der weihnachtlichen Botschaft ist der Satz, dass das Wort Fleisch wurde. 

Das Wort, das am Anfang bei Gott war, das Gott war, wie wir im Prolog des Johannesevangeliums lesen; das Wort, durch das Gott sich ganz selbst entäußern wollte – ist Mensch geworden. Gott, der für uns zunächst fern und unbegreiflich ist, der alles übersteigt, dieser Gott will sich verständlich machen: Er sendet sein Wort. Er gibt sein Wort den Menschen und nimmt es nicht zurück. Jenes schöpferische Wort, voll von Leben und Kraft, das Wort, durch das alles geworden ist, was geworden ist. Das Wort, das von den Propheten getragen wurde. Das Wort, durch das sich Gott mitteilt und teilt, dieses Wort schreitet durch die Heilsgeschichte hindurch. Und die letzte, endgültige und vollkommene Gestalt dieses Wortes ist das Menschsein Jesu Christi.

Über dem Kind, das im Stall von Bethlehem geboren wurde, steht der göttliche Stern. Jesus von Nazareth, sein Menschsein – auch in der Gestalt der kindlichen Ohnmacht – ist die Fülle der Selbstentäußerung Gottes. Der Gott, von dem unser Glaube spricht, ist nicht mehr ein ferner Gott: es ist der Emanuel, der Gott mit uns. Der Gott, der als einer von uns mit uns sein wollte.

Gott prägt unser Menschsein, indem er sich selbst entäußert. Das Menschsein ist der heilige Ort, an dem uns Gott begegnet. Es muss etwas unfassbar Großes sein, ein Mensch zu sein, wenn selbst Gott Mensch sein will!

Würde und Wert

In diesem weihnachtlichen Glauben sagen wir, dass jeder, der sein eigenes Menschsein und das Menschsein der anderen als eine Gabe und Berufung dankbar und verantwortlich annimmt, bereits dadurch Gott begegnet.

Gott ist immer dort, wo der Mensch ist – auch diese Hoffnung ist Bestandteil unseres weihnachtlichen Glaubens. Und auch deshalb sind wir verpflichtet, die Größe und die Würde des Menschen, seine Rechte und seine Freiheit zu verteidigen. Im Namen dieses weihnachtlichen Glaubens sagen wir »NEIN« zu allen Versuchen, den Wert des Menschen herabzusetzen und den Wert des Menschen geringzuachten. Im Namen dieses weihnachtlichen Glaubens sagen wir, dass kein Mensch in der Welt diskriminiert werden darf – weder aufgrund seiner Herkunft, Religion, politischen Einstellung oder Zugehörigkeit zu einer Nation. Im Namen dieses weihnachtlichen göttlichen Vertrauens in den Menschen wollen wir alle, die verzweifeln und darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen, an die Größe und Schönheit des Menschseins erinnern. Das menschliche Leben – jedes, auch das zerbrechlichste, auch das, welches noch im Schoß der Mutter verborgen ist – ist heilig. Es ist eine große Sache, ein Mensch zu sein, sagt uns die Botschaft der Weihnacht.

Weihnachten ohne Verachtung

Bedeutet dies vielleicht, dass wir das Christentum auf einen »bloßen« Humanismus reduzieren? Nein. Mensch und Gott, Gott und Mensch, gehören zusammen – sagt uns die Botschaft der Weihnacht. So wie die Geschichte des göttlichen Wortes unvollendet geblieben wäre, wenn das Ereignis der Inkarnation nicht eingetreten wäre, so ist auch der Mensch ohne Gott nicht komplett.

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist: Die Wahrheit dieses biblischen Wortes erleben wir gerade an Weihnachten sehr lebendig. Der Mensch soll sich nicht isolieren; er soll sich nicht von anderen Menschen isolieren, auch nicht von Gott. Wenn sich der Mensch in sich selbst einschließt, besonders in der stolzen Sehnsucht, Gott zu spielen, beschädigt er dadurch sich selbst und handelt gegen die Ordnung der Schöpfung. Wenn er den Weg zu Gott findet – wenn auch in kleinen Schritten, vielleicht geführt von jenem weihnachtlichen Duft des Heiligen, vielleicht dadurch, dass er auch die menschliche Seite von Weihnachten ohne Verachtung annimmt, aber vor allem dadurch, dass er sein eigenes Menschsein ganz auf sich nimmt und das Menschsein der anderen achtet – dann wird jene gestörte Ordnung und jener Friede erneuert.

Es ist nicht gut, dass der Mensch allein ist: Die Wahrheit dieses Satzes spüren viele Menschen an Weihnachten dieses außerordentlich schweren Jahres am eigenen Leibe. Viele Menschen sind in dauerhafter Trennung von ihren Liebsten, in Krankenhäusern oder in der Quarantäne. Viele Menschen sind einsam, weil der Tod ihnen nahestehende Menschen genommen hat. Viele Plätze bleiben am Weihnachtstisch leer. Nur wenige können die Festtage dieses Jahr so feiern, wie sie es die Jahre über gewohnt waren, oder wie sie es sich wünschen würden.

Wir haben bis jetzt über die Größe des Menschseins gesprochen. Das Vertrauen in den unermesslichen Wert und die Würde jedes menschlichen Wesens ist Bestandteil unseres Glaubens. Wir dürfen jedoch auch die Zerbrechlichkeit und die Verletzbarkeit der menschlichen Existenz nicht vergessen. Gerade an den zweiten Teil der Wahrheit über den Menschen haben uns die Ereignisse dieses Jahres erinnert. Noch vor einem Jahr konnte sich wahrscheinlich niemand vorstellen, dass ein unscheinbarer, unsichtbarer Virus die Welt mehr umwälzen wird als grausame Kriege, dass er den Weg auch zu den fernsten Ländern und Nationen finden wird, dass er nicht nur Einzelne, sondern auch ganze Staaten treffen, Wirtschaftssysteme erschüttern, in die politische Entwicklung und in das kulturelle Leben eingreifen wird.

Ja, diese Erfahrung hat auch unser religiöses Leben, unseren Glauben berührt. In Zeiten von Katastrophen finden sich immer Menschen, die ihr Gottesbild als Erklärung anbieten – das Bild eines rachsüchtigen, verärgerten Gottes, der grausame Strafen herabschickt. Auf das Geheimnis des Bösen und des Leids bieten sie einfache Antworten: Es ist die Strafe Gottes, die Strafe für diejenigen, die diese Menschen hassen oder vor denen sie Angst haben. Ihr Gott ist das Instrument ihrer Rachsucht. Lesen wir das Buch Ijob, das eine leidenschaftliche Polemik mit dieser blasphemischen Auffassung von Gott darstellt. Auch Jesus lehnte es ausdrücklich ab, hinter jedem Unglück und jedem Leid eine Strafe Gottes zu sehen.

Heilig und hoffend

Suchen wir Gott nicht in den Stürmen der Katastrophen, in den Fluten des Unglücks, in den todbringenden Erdbeben, die viele Sicherheiten erschüttern. Lauschen wir vielmehr seiner Stimme im leisen Hauch des menschlichen Mitgefühls, in den Äußerungen der solidarischen Hilfe. Gott ist in unserer Welt vor allem in den Akten der menschlichen Liebe, des Glaubens und der Hoffnung anwesend.

Gott ist das, was in der Liebe heilig und bedingungslos ist. Das Jahr 2020 hat die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz gezeigt; es hat in unsere Welt viel Schmerz und große Ängste hineingetragen. Es hat jedoch auch viele Zeugnisse einer aufopfernden Liebe gebracht, welche die Angst, die Gleichgültigkeit und den Egoismus überwindet. »Ubi caritas, Deus ibi est« – wo die Liebe ist, dort ist Gott, singen wir während der österlichen Liturgie. Denken wir daran – auch an Weihnachten.