29. Mai 2020

Wir müssen reden!

Der Gastbeitrag ist in der ZEIT-Beilage Christ & Welt am 28. Mai 2020, Nr. 23/2020, S. 4 erschienen.

 

Gesprächsbereit. Grundsätzlich, zuhörend, interessiert« – dieses Plakat haben Anfang Mai zwei sächsische Politiker, Franziska Schubert (Grüne) und Stephan Meyer (CDU), zu einer Demonstration in Zittau mitgebracht, als der Missmut über die Einschränkungen der vergangenen Wochen die Straßen füllte. Angesichts der Herausforderungen bei den Entscheidungen in Zeiten der Pandemie sprach Annegret Kramp-Karrenbauer von einer »Charakterprobe« im Podcast »Mit Herz und Haltung« der Katholischen Akademie des Bistums Dresden-Meißen. 

Doch was, wenn es hier sogar um eine Probe des gesellschaftlichen Miteinanders geht? Wenn Schubert und Meyer erkannt haben, dass sich hier eine Emotionalität Bahn bricht, deren Dynamik nur schwer kalkulierbar ist? War es die Erfahrung der vergangenen Jahre in Sachsen, dass die beiden wussten: Diese Unzufriedenheit hat das Potenzial, aus dem grundhaften Zweifel einen Keil zu formen, der unsere Gesellschaft erneut spalten kann?

2015 ist in unserem Land etwas aufgebrochen, dessen Heilungsverlauf nicht geradlinig ist. Nur mühsam erobern Vertrauen und gegenseitiges Zuhören den öffentlichen Raum zurück. Doch die derzeitigen Proteste verstören das gemeinsam Erreichte. Angst macht sich unter Politikern breit, die eigenen Entscheidungen nicht ausreichend erklärt zu haben. Nervosität, das Beben zu unterschätzen, das aus der Unzufriedenheit erwächst. Und Sprachlosigkeit, kruden Behauptungen die Tatsachen entgegenzusetzen, ohne Bühnen zu öffnen.

In Sachsen stecken die Demonstrationen von Pegida und in Chemnitz 2018 ebenso in den Knochen wie deren enge Verknüpfung mit der AfD. Im Freistaat lebt nicht hinter jedem Gartenzaun eine radikale Meinung. Stattdessen scheint zwischen den Latten die Sehnsucht nach ehrlichem, ernst gemeintem und zuhörendem Interesse durch. Neonazis, Populisten und Verschwörer gibt es hier selbstverständlich auch. Entscheidend wird in den nächsten Wochen aber sein, ob man ihnen die Fragilität des Miteinanders überlässt. Oder ob der christliche Glaube nicht gerade dort seinen Ort hat. Dies ist keine Frage des Ostens, sondern der ganzen Republik.

Mit den Folgen der Pandemie wächst der Bedarf, das in Sachsen Gelernte zu nutzen, um die bundesweite Polarisierung zu mindern. Die »globale Verwundbarkeit der globalisierten Welt« (Tomáš Halík, Christ&Welt 15/2020) offenbart in der nächsten Phase ein weiteres Zeichen der Zeit, das für das Christentum und dessen Theologie eine erneute Konfrontation mit dem Leben bedeutet. Wohin also mit dem »Lazarett« namens Kirche?

Als Schubert und Meyer ihre Plakate mitgebracht haben, waren dies die ersten Stützen jener Lazarette auf unseren Straßen, im »Galiläa von heute«, jener Welt der Suchenden, die Tomáš Halík beschrieben hat. Bei der Wut und Trauer der Menschen zu sein heißt jedoch nicht, ihre Emotionen vollends gutzuheißen. Die Sünde zu benennen, ohne den Sünder an sich zu verurteilen, ist zutiefst dem Menschenbild entsprechend, das dem christlichen Glauben entspringt.

Sind wir bereit, auf diese Weise Gott zu suchen? Mit Empathie gelingt es, die Last des Gehörten zu tragen. Schräge, teils falsche Gedanken zu entlarven und das Gegenteil argumentativ zu belegen, ist eine Herausforderung – vielleicht sogar etwas fast ans Unmögliche Grenzendes. Aber wohin ist unser Vertrauen in die Gaben des Heiligen Geistes, wenn wir uns nicht mehr zutrauen, in solchen Situationen die Wahrheit zu verkünden? Das muss der Wind sein, der in den Lazaretten auf den Straßen weht. Die Kleingläubigkeit zu entlarven und das Suchen der scheinbar so Überzeugten offenzulegen, braucht das klare Bekenntnis zu den Armen und Schwachen.

Zweimal, so erzählen es manche Zeitzeugen aus ihrem eigenen Erleben in Sachsen, hätten sie bereits als Christen ihre Hoffnung zum Lazarett für die ganze Gesellschaft machen dürfen, ohne selbst den Halt verloren zu haben: während der Friedlichen Revolution und angesichts der gesellschaftlichen Debatten infolge der Migrationsentwicklungen. Bei beiden Ereignissen mussten sie selbst lernen, ihren eigenen Schutzraum aufzugeben, um anderen das freie Sprechen zu ermöglichen. 1989 und 2015 waren sie selbst gefordert, ihre Kirche zum Lazarett zu machen, um im Handeln und Reden gegen den Hass zu immunisieren und durch Vergebung die Traumata zu heilen. Waren wir selbst nicht daran beteiligt, verbeugen wir uns vor den mutigen Propheten dieser Zeit, den Friedensstiftern. Sie wurden zu den Hoffenden bei den Suchenden. Morgen wird zum Anspruch: Wenn es brodelt, sind die Kirchen mit ihren Akademien offen. Gebet und Streit sollen hier ihren Platz haben, wenn diese Orte gebraucht werden.

Wir können verhindern, dass die jetzige epidemiologische Krise zu einer anthropologischen führt. Wie christlich der Kontinent und unser Land sich jetzt zeigen, wird nur begrenzt an der Zahl der Gottesdienstbesucher, Berufungen oder Kirchen zu messen sein. Wie christlich Europa sich zeigt, wird sich daran erweisen, ob der Mensch als Ebenbild Gottes anerkannt bleibt. Das heißt: demütig, aber eben auch mutig für die Würde des Menschen einzustehen. Lasst uns ebenso den Mut zum ehrlichen und empathischen Streit als auch den offenen Blick und die helfenden Hände für die Mitmenschen haben.

Anders als 1989 und 2015 machen wir in dieser Krise nicht unsere Gotteshäuser zu den Lazaretten der Gesellschaft, sondern sind auf neue Weise gedrängt, auf die Straßen der Welt zu gehen. Es ist nicht zu verschweigen, dass die Einschränkung der freien Religionsausübung für viele Gläubige nicht nur ein schmerzliches Gefühl darstellte, sondern einen Einschnitt in ein Grundrecht, das nur angesichts der außerordentlichen Situation zu akzeptieren und auch nicht lange auszuhalten war. Natürlich bleibt jeder gemeinsam öffentlich gefeierte Gottesdienst für alle Religionsgemeinschaften die zentrale Kraftquelle, um in der Welt handeln zu können. Dabei dürfen wir uns aber nicht der Illusion hingeben, wir seien unverwundbar. Deswegen trägt auch heute noch die Überzeugung, dass es zum Wohl der Bevölkerung richtig war, dies über den überschaubaren Zeitraum hinweg mitzutragen.

»Wir lernen alle in der Krise hinzu«, betonte Christine Lieberknecht (CDU), die ehemalige Ministerpräsidentin von Thüringen, zuletzt im Interview. Diese Lernfähigkeit müssen wir auch der Kirche zugestehen. Weil wir doch spüren, wie die einen in der Pandemie nach geistlicher Begleitung hungern, während für andere der Glaube keine Lösungsrelevanz mehr besitzt.

Es geht nicht mehr um die Frage, wie die Kirche zu den Menschen spricht, sondern ob die Menschen »Gott« als passende Antwortoption noch heranziehen. Es wird nicht mehr darum gehen, welche Beschränkungen wir der Liturgie auferlegen, sondern ob wir wirklich bei denen sind, die suchen und bisher weder von Politikern noch Ärzten die ausreichende Antwort erhielten.

Kein Weg führt daran vorbei, bei genau diesen Menschen sein zu wollen. Dann können wir keine Einschränkungen hinnehmen, wenn es um die Begleitung am Anfang und am Ende des Lebens geht. Oder sind wir nur noch in der Lage, das allein physische Wohl zu denken?

Auch in der größten Krise dürfen wir die Menschen und ihre Angehörigen im Leid nicht allein lassen. Im Sterben und im Leben wollen wir mit ihnen Mensch sein und für sie Christ. Gelassen und demütig. Hoffnungsvoll und diskret statt angstmachend und dröhnend.

Hieraus erwächst die christliche Frage auf das Zeichen dieser Zeit: Unterscheidet sich unser Sprechen in der Sprachlosigkeit vom sprachlosen Sprechen der anderen? »Gesprächsbereit. Grundsätzlich, zuhörend, interessiert« – damit beginnt der Wandel vom statischen »Christsein« zum dynamischen »Christwerden«. Es werden die wandernden Lazarette auf den Straßen unserer Zeit.