17. Mai 2020

Die Corona-Krise ist ein Charaktertest

Die Pandemie ist keine üble Verschwörung technokratischer Tyrannen. Doch sie zeigt das wahre Gesicht vieler Menschen. Ein Gastbeitrag von Heinrich Timmerevers und Thomas Arnold.

Heizung aus, Tür zu, Schlüssel rum. Egal, ob Geschäfte, Büros oder Kirchen – innerhalb weniger Tage war das Land heruntergefahren. Was erst zwei Monate her ist, scheint inzwischen wie eine Erzählung aus einer längst vergangenen Zeit. 

Inzwischen prägen unseren Alltag Schutzmasken, Abstandsmarkierungen und Desinfektionsspender. Schnell ging alles in den vergangenen Wochen. Parallel wächst der Eindruck, unser Land hätte zu wenig darüber gesprochen, ob die vom Virus ausgehende Gefahr im richtigen Verhältnis zu den Maßnahmen steht. Manche haben das Gefühl, die Pandemie sei nur ein Vorwand, um Grundrechte wie die Freiheit der Religionsausübung dauerhaft einzuschränken und eine wie auch immer geartete Weltregierung zu errichten. Wie kann inmitten dieser Situation der Zusammenhalt gelingen? Einerseits fordert doch der Weg durch die Krise Debatten, weil wir in dieser freien Gesellschaft die Richtung gemeinsam aushandeln müssen. Andererseits birgt dieser – teils langwierige – Weg die Gefahr, Menschen mit Halbwahrheiten und Lügen in die Irre zu führen. Dass dies auch aus dem Innersten der Kirche kommt, beschämt. Die Erinnerung an die Bilder der italienischen Lastkraftwagen voll mit Särgen mahnen, dass diese Pandemie keine übertriebene Panikmache ist. Aber keiner muss nach Bergamo oder Wuhan reisen, um das Leid zu erleben, das diese Krise ausgelöst hat. Der Blick in die sächsischen Krankenhäuser reicht, um zu wissen, dass diese Pandemie niemand geplant hat, um eine „technokratische Tyrannei zu begründen“. Natürlich mussten in den vergangenen Wochen Entscheidungen von Verantwortlichen in Politik und Kirche getroffen werden, die hart waren und keinesfalls auf Dauer zu dulden sind. Aber niemand hat sie in Deutschland entschieden, um etwa eine christliche Zivilisation auszulöschen oder die Impfpflicht zu legitimieren – um aus zwei Bereichen kursierende Gedanken aufzunehmen, sondern um das mögliche Leid vieler Menschen so weit wie möglich zu mindern. Wenn dann von einer Weltverschwörung fabuliert wird, ist das eine schallende Ohrfeige für alle, die sich in den vergangenen Wochen aufrichtig für die richtigen Entscheidungen eingesetzt haben. Eine Charakterprobe sei diese Pandemie, sagte kürzlich die Bundesvorsitzende der CDU, Annegret Kramp-Karrenbauer im Bildungspodcast „Mit Herz und Haltung“, den die Katholische Akademie des Bistums Dresden-Meißen regelmäßig veröffentlicht. 

Dass wir uns mitten in einer solchen Charakterprobe befinden, trifft nicht nur auf das Handeln, sondern auch auf die Art des Diskutierens zu. Es geht dabei nicht darum, Andersdenkende als Verschwörungstheoretiker mundtot zu machen. Aber jeder Streit wird nur gelingen, wenn er auf dem Boden der Wahrheit bleibt. Dabei brauchen wir doch tatsächlich die Debatte. Alle künftigen Abwägungsprozesse sind notwendig, damit wir gemeinsam den Weg durch die Krise finden. Wie schaffen wir eine Konfliktkultur, die von der ehrlichen Akzeptanz des anderen als Mensch bestimmt ist? Daran wird sich unser Miteinander messen lassen müssen. 

Doch wie? Gebetsmühlenartig wurde in den vergangenen Jahren immer wieder wiederholt, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen. Wie gelingt es, eine Empathie für die Positionen und die Biografie des Gesprächspartners zu entwickeln? Nicht vorzuverurteilen, sondern genau hinzuhören und lernbereit zu bleiben, ist ein Weg dorthin. In den letzten Jahren lernten wir auch, dass sich zwischen den Menschen mit ernstzunehmenden Sorgen auch immer wieder andere befinden, die in ihrer Blase gefangen sind und sich in kruden Theorien verfangen haben. Sie als Menschen zu würdigen, aber zugleich schräge, teils auch falsche Gedankenkonstrukte zu entlarven und das Gegenteil argumentativ zu belegen, ist eine Herausforderung, vielleicht sogar etwas fast ans Unmögliche Grenzende. Es ist aber zutiefst dem Menschenbild entsprechend, das dem christlichen Glauben entspringt, auch diese Menschen nicht vollständig auszuschließen. Dies heißt nicht, dass man dafür die Anwaltschaft für die Armen und Schwachen aufgeben darf. Gerade, wenn in dieser Situation die Frage zur Antwortoption führt, für die Freiheit der Gesellschaft mehr Tote bei Kranken und Alten zu riskieren, braucht es die klare Position für jene, deren Stimme sonst zu leise ist. Es wird in diesem Prozess darauf ankommen, das verschiedene Empfinden und die verschiedenen Ziele nicht gegeneinander auszuspielen. Dabei dürfen wir uns nicht von Polarisierungen oder populistischen Vereinfachungen treiben lassen.

Wir brauchen Friedensstifter statt Feuerteufel. Wer nur den Streit sucht, weil er Spaltung will, darf keine Anhänger finden. Frieden erwächst aus dem Streit der Argumente und der Bereitschaft, am Ende einen Konsens zu finden. Wo dieses Bestreben von vornherein ausgeschlossen wird oder gar der Hass in der Gesellschaft sich Bahnen brechen will, hat der Dialog seine Grenzen. „Hass ist keine Meinung“, sagte in dieser Woche Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung. Deswegen braucht jede Konfliktkultur die hohe Sensibilität, wessen Argumenten man sich anschließt und in welcher öffentlichen Demonstration die kritische Haltung ihren Ausdruck findet.

Zudem stehen besonders die Medien in der hohen Verantwortung, die verschiedenen Meinungen abzubilden, ohne zu Katalysatoren der Polarisierungen zu werden. Schnell erzeugt eine Minderheitenposition mit lautem Dröhnen das Gefühl, sie sei die deutliche Mehrheit. Die Debatte wird aber erst dann lebendig und fruchtbar, wenn sich viele daran beteiligen und sie nicht von den Rändern, sondern in der Mitte geführt wird. Lasst uns diese Krise mit einer Konfliktkultur gestalten, die Herz und Haltung hat! Wenn es brodelt, sind die Kirchen offen. Streit und Gebet haben hier ihren Platz, wenn diese Orte gebraucht werden. 

Es braucht eine Vorstellung davon, wie wir miteinander in den kommenden Jahren in unserem Land und in Europa leben wollen. Kranke aus anderen Ländern in Sachsen einen Platz zur medizinischen Behandlung anzubieten, hat gezeigt, dass die Solidarität nicht am sächsischen Tellerrand enden muss. Wir leben auf einem Kontinent, der einen hohen ethischen Anspruch mit tiefen Wurzeln hat. Die Würde des einzelnen Menschen und das Prinzip der Solidarität aller Menschen in Europa sind die zentralen Prägungen, die auch durch die Krise helfen. Sie haben nicht nur eine entscheidende geistesgeschichtliche Wurzel, sondern sind auch ein Wert, der unsere Völker im 21. Jahrhundert auszeichnen soll. Dies befreit nicht von politischen Aushandlungsprozessen oder minimiert den Stellenwert der Wirtschaft für eine funktionierende Gesellschaft. Keiner ist blind für die katastrophalen, für manche vielleicht existentiellen Konsequenzen in vielen Wirtschaftsbereichen bis hin in den Kunst- und Kulturbetrieb. Wir brauchen für das Gemeinwohl eine profitable Marktwirtschaft mit Gewinnen, Investitionen und ausreichend Arbeitsplätzen für alle. Die Würde des Einzelnen im Blick zu behalten, fügt ihr aber den entscheidenden Zusatz ‚sozial‘ hinzu und zwingt allen Entscheidungen aus einer Perspektive und Gewichtung zugunsten der Menschen zu bewerten. Es darf nicht einmal ein Gedanke daran verschwendet werden, einen Impfstoff Menschen eines Landes vorrangig zu liefern – und ihn anderen damit vorzuenthalten. Wenn das Vorhaben eines europäischen Pharmaherstellers tatsächlich in die Tat umgesetzt wird, offenbart dies eine Fratze der Unmenschlichkeit. „Nein zu einer Wirtschaft der Ausschließung, in der Menschen an den Rand gedrängt und zum Abfall werden. Nein zu einer Vergötzung des Geldes und zur Ideologie von der absoluten Autonomie der Märkte. Nein zum Geld, das regiert, statt zu dienen. Nein zur sozialen Ungleichheit, die Gewalt hervorbringt.“ (Kardinal Walter Kasper). Alles andere würde uns von der epidemiologischen zur anthropologischen Krise führen. Wie christlich der Kontinent und unser Land bleiben, wird nur begrenzt an der Zahl der Gottesdienste, Priester oder Kirchen zu messen sein. Wie christlich Europa bleibt, wird sich daran erweisen, ob der Mensch als Ebenbild Gottes anerkannt bleibt. Das heißt: Demütig, aber eben auch mutig für die Würde des Menschen vom Kleinsten bis zum Ältesten, vom östlichsten bis zum westlichsten Punkt der Welt einzustehen. Lasst uns ebenso den Mut zum ehrlichen und empathischen Streit als auch den offenen Blick und die helfenden Hände für die Mitmenschen haben. So wird die Krise mit Herz und Haltung gelingen.

 

Der Gastbeitrag erschien am 17. Mai in der Sächsischen Zeitung.